ETAPPEN DER INNOVATION - VOM PRIMÄR- ZUM SEKUNDÄRSCHUTZ
Mit der Entwicklung der Leistungsschalter suchte man nach Lösungen zur automatischen Auslösung insbesondere bei Kurzschlüssen in den Erzeugungs- und Übertragungsanlagen. Ging es zunächst nur darum, den Kurzschlussstrom zu unterbrechen, so wurde bald der Ruf nach einer selektiven Heraustrennung des gestörten Betriebsmittels laut, um den Betrieb der nicht fehlerhaften Anlagenteile weiterhin zu ermöglichen. Untersuchungen der zahlreich aufgetretenen Ölschalterexplosionen zeigten, dass eine zu schnelle Auslösung, aber auch eine zu große Zeitverzögerung Probleme für den Schalter darstellten. Hinzu kamen die thermischen Auswirkungen auf alle Betriebsmittel.
Schmelzsicherung als Primärschutz
Ende des 19. Jahrhunderts benutzte man in Starkstromanlagen – damals meist noch Gleichstromanlagen – zum Schutze der Generatoren, Leitungen, Motoren und anderer Verbraucher vor den thermischen Auswirkungen durch Überlast oder Kurzschlussströme hauptsächlich Schmelzsicherungen, die aus Blei, Silber, Zinn oder dgl. hergestellt waren. Die Schmelzstreifen der Sicherungen (Draht oder Band) wurden offen betrieben. Mit größer werdender Spannung und Leistung verkleidete man aus Sicherheitsgründen für das Betriebspersonal die Schmelzstreifen in Rohre aus Porzellan oder Tonerde, die oben und unten offen waren. Man sprach deshalb von Röhrensicherungen. M. Vogelsang beschreibt in [1] die Ausführung einer Konstruktion der AEG von 1897 einer einfahrbaren Röhrensicherung zusammen mit einem Strommesser (Abb. 1).
Dass die offenen und gefüllten Röhrensicherungen sich anfänglich schon gut bewährten, lag außer an der zumeist nicht großen Leistung der Zentralen (Kraftwerke) besonders an der natürlichen Staffelung des Sicherungssystems. Für kleine Stromstärken funktionierten die Röhrenpatronen recht gut, insbesondere bei von der Zentrale entfernten Fehlern. Die schweren Patronen – oft über 100 A und mehr –, wie sie in den Zentralen zum Einsatz kamen, sprachen durch die natürliche Zeitstaffelung sehr selten an, und wenn es wirklich mal so weit kam, dann war die Spannung entweder schon abgesunken oder man hatte in der Zentrale bereits begriffen, dass es an der Zeit sei, abzuerregen.
Mit weiterentwickelten Sicherungen war eine Selektivität recht einfach zu erreichen, da die Schmelzzeitkennlinien praktisch über den gesamten Strombereich parallel verlaufen. In Reihe liegende Sicherungen verhalten sich selektiv, wenn die Schmelzzeit der übergeordneten Sicherung größer als die Ausschaltzeit an der Fehlerstelle ist (Abb. 2). [2]
Abb. 1 Einfahrbare Sicherung, AEG, 1897
Abb. 2 Selektivität in Reihe liegender Sicherungen Primärschutz
Primärauslöser
Neben den zweifelsfreien Vorteilen einer Sicherung (Begrenzung des Stoßkurzschlussstromes, geringe Kosten) blieben als Nachteile, dass sie nur einen einzigen Ausschaltvorgang leisten kann und dann der Schmelzeinsatz von Hand aus ersetzt werden muss und mit der Zeit auch sehr kostspielig werden kann. Man suchte deshalb nach einer Möglichkeit, damals schon gefertigte Leistungsschalter so einzurichten, dass sie durch strommessende Einrichtungen, Auslöser oder Relais ausgelöst wurden, wenn der Strom einen bestimmten Wert überschritt.
Bei der Firma Helios von Froitzheim wurde für die auf der Pariser Weltausstellung 1900 ausgestellte Maschine von 3000 kVA ein Hochspannungsschalter in Form eines Hebelschalters ausgeführt, der mit einer Maximalauslösung versehen war und bei dem der Lichtbogen mit Luft ausgeblasen wurde. In Abb. 3 löst der oben angebrachte Magnet bei Überstrom eine Halteklinke aus und dem Hartgummirohr am Kontaktfuß entströmt bei der Abschaltung Druckluft.
Abb. 3 Schalter mit Maximalauslöser und Druckluftbeblasung, Helios, 1900
Ebenfalls 1900 konstruierte BBC einen Dreh-Ölschalter, den A. Aichele mit einer Einrichtung zur direkten Maximalstromauslösung versah (Abb. 4). Beim Einschalten wurde das schwere Gewicht um 180° angehoben und verklinkt Die Schaltmesser selbst machten nur einen Schaltwinkel von etwa 90°. Der Unterschied musste also im Innern des Schalters durch Mitnehmernocken ausgeglichen werden. Dadurch wurde aber auch erreicht, dass das Gewicht bei der Auslösung zunächst einen erheblichen freien Fall hatte, was für die Auslösesicherheit wichtig war. Die Auslösung erfolgte durch drei Ferrarisscheiben, die gemeinsam auf einer Welle aus Isolationsmaterial aufgesetzt waren. Durch ein Ritzel wurde ein größeres Zahnrädchen angetrieben, an dem als Gegenkraft ein kleines einstellbares Hebelgewicht angebracht war, das bei der Auslösung angehoben werden musste. Gleichzeitig wurde ein Ärmchen mit bewegt, das bei vollem Ablauf die Verklinkung des Auslösgewichtes löste. So hatte man bereits eine stromabhängige Auslösung erreicht. [1]
Abb. 4 Ölschalter mit direkter Maximal-Zeit-Auslösung, BBC, 1900
Einen 6-kV-Ölschalter mit direkter Auslösung von AEG aus dem Jahre 1904 zeigt Abb. 5 sowie von V&H, 1906, Abb. 6. In diesem Zusammenhang sei auch auf den auf Anregung von Goldenberg, Direktor der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke 1908, von V&H geschaffenen RWE-Schalter (Abb. 7) hingewiesen.
Abb. 5 Ölschalter mit direkter Auslösung, 6 kV, AEG, 1904
Abb. 6 Ölschalter mit direkter und verzögerter Auslösung, 6 kV, V&H, 1906
Abb. 7 RWE-Schalter, 5–10 kV, V&H, 1908
Bei den Primärauslösern, die grundsätzlich unter Hochspannung betrieben und in der Regel an den Schalterpoldurchführungen befestigt wurden, wurde die Wicklung der Stromspule direkt in den zu überwachenden Stromkreis geschaltet und das Schaltschloss über eine Isolierstange auf elektrischem Wege entklinkt oder rein mechanisch betätigt (Abb. 8). [3]
Abb. 8 Ölschalter, Sachsenwerk Dresden, um 1918
BBC bezeichnete den 1915 gefertigten Primärauslöser mit „Hauptstrom-Zeitrelais, Bauart H“. Abb. 9 zeigt eine verbesserte „hochkurzschlussfeste Bauart HB4“ von 1936.
Abb. 9 Hochkurzschlussfestes Hauptstromrelais HB4, BBC, 1936
Primärauslöser bzw. -relais erforderten bei der Einstellung bzw. Prüfung eine Außerbetriebnahme des Abganges bzw. sogar einen Ausbau des Schutzgerätes (Abb. 10).
Abb. 10 Prüfung eines Primärauslösers im ausgebauten Zustand
Während beim Primärauslöser die Leistungsschalterauslösung rein mechanisch vorgenommen wird, erfolgt beim Primärrelais die Ausimpulsübertragung durch eine vom Wandlerstrom gewonnene oder externe Hilfsspannung. Als Beispiel sei hier das Primärrelais MUT mit thermischer Überlast- und Kurzschlussstromfunktion von Sprecher + Schuh aus dem Jahre 1969 (Abb. 11 und 12) angeführt.
Abb. 11 Funktion Primärrelais MUT1, Sprecher + Schuh, 1969
Abb. 12 Primärrelais MUT1, Sprecher + Schuh, 1969
Alle Einstellvorrichtungen und Skalen sind auf der Frontplatte der Relais angeordnet und Einstellungen oder Änderungen können während des Betriebes mit einer isolierten Bedienungsstange vorgenommen werden.
Primärrelais
R. Ulbricht, IfE, Leipzig, entwickelte das 1968 zum Einsatz kommende Primärrelais RSp20 (Abb. 13 und 14). Mittels zweier Schrauben in der Jochplatte ist das gesamte Relais fest mit dem Leiter verbunden. Die Kassette enthält als aktiven Teil eine Geko-Schaltröhre („Geko“, geschützter Kontakt, Firmenbezeichnung des Herstellers VEB Statex Ilmenau), die zur Eliminierung von Fremdfeldeinflüssen in Längsrichtung zum Primärleiter angeordnet ist. Durch die Isolierung hindurch wirkt das elektrische Feld, hervorgerufen durch den Strom des Primärleiters. Die Geko-Schaltröhre enthält zwei sich an der Kontaktstelle kurz überlappende eiserne Zungen, die sich unter dem Einfluss des Wechselfeldes im Rhythmus des Feldes schließen bzw. öffnen, sobald der eingestellte Ansprechstrom überschritten wird. Die in die Glasröhre eingeschmolzenen Kontakte stehen unter Schutzgas und unterliegen daher keinem Abbrand. Da der Geko-Kontakt dem Rhythmus der Netzfrequenz folgt, ist das zur Verstärkung der Schaltleistung notwendige Hilfsrelais zum Integrierglied erweitert, dessen Spule eine entsprechende RC-Kette parallel geschaltet ist.
Das für einen Nennstrom von 630 A ausgelegte Einleiterrelais ist auf Primärleiter 40 x 10 mm2 aufsetzbar, ohne die Leiterschiene zu unterbrechen, thermisch und dynamisch für 350 MVA Kurzschlussleistung ausgelegt und stufenlos im Bereich 300 bis 1800 A einstellbar. [9]
Abb. 13 Primärrelais RSp20, IfE, 1968
Abb. 14 Primarrelais RSp20, IfE, Schnitt
In Zusammenhang mit einem Zeitrelais (Abb. 15) oder Kondensatorauslöserelais, Fa. Kröber, Radebeul (Abb. 16), ist ein Überstromzeitschutz realisiert.
Abb. 15 Primärrelais RSp20 mit batteriegespeistem Zeitglied
Abb. 16 Primärrelais RSp20, IfE, mit Kondensatorauslösegerät KAZ, Kröber
Sekundärschutz
Der Einsatz von Messwandlern
Der 1898 von G. Benischke erfundene Stromwandler ermöglichte den Anschluss von Sekundärrelais, bei dem der Kurzschlussstrom aus der damals meist für 5 A ausgelegten Sekundärwicklung dem Schutzrelais zugeführt wurde. In Abb. 17 sind Strom- und Spannungswandler aus dem Jahre 1899 abgebildet. [12]
Abb. 17 Strom- und Spannungswandler, AEG, 1899
Die elektromechanischen Relais und insbesondere die ersten mit Klappanker benötigten viel Energie, sodass man zunächst 5 A als sekundäre Nennstromstärke festlegte. Mit dem Einzug der Gleichrichter und Drehspulrelais konnte man später auf 1 A zurückgehen, was sich besonders bei Messwertübertragung über größere Strecken (Wartenbau) wegen der Wandlerbebürdung (S = I2 *R) günstig auswirkte. Wenn man überlegt, dass 1926 Arnold bereits die Verwendung von 1 A als sekundärseitigen Nennstrom vorgeschlagen hat und auch heute – wenn auch abnehmend – immer noch 5-A-Neuanlagen errichtet werden …
Im Jahre 1912 schlagen Rogowski und Steinhaus eine eisenlose Messwertwandlung vor. Diese Rogowski-Spule kam seinerzeit kaum zur Anwendung, da die Leistung für die damaligen Relais nicht ausreichte.
Leistungsschalter
Der Leistungsschalter – um 1900 vorwiegend Ölkesselschalter – wurde mit einem Kraftspeicher in Form eines Federspannwerkes ausgestattet, das beim Einschalten gespannt wurde und dann die für die Ausschaltung erforderliche Energie besaß. Wichtig war in diesem Zusammenhang die Entwicklung der sogenannten Freiauslösung, d. h. eine im allgemeinen mechanische Einrichtung, die den Einbefehl unwirksam machte, wenn gleichzeitig ein Ausbefehl anstand. S. H. Sharpstein (US) begründet 1899 die Forderung, „dass, wenn der Schalter auf einen Kurzschluss geschaltet wird, er wieder öffnet, unabhängig vom Handgriff“ (üblich waren in den USA bisher zwei Schalter in Reihe – mit Auslöser bzw. zur Einschaltung). Diese Forderung wird 1901 erstmalig in der Konstruktion von Emmet & Hewlett in Amerika und durch M. Vogelsang, V&H, beim Hörner- und Ölschalter in Deutschland verwirklicht.
Konstruktiver Aufbau der Mess- und Hilfsrelais
Eine Zusammenstellung der Messglieder beim elektromechanischen Schutzrelais zeigen die Abb. 18 bis 20. [4]
Die Arbeitsweise beruht beim elektromagnetischen Relais auf der Kraftwirkung einer stromdurchflossenen Spule auf bewegliche Eisenteile. Die von der Wirkungsweise abhängige Kraft arbeitet dabei gegen eine mechanische Federkraft.
Abb. 18 Elektromagnetische Relais
Die zunächst eingesetzten Klappankerrelais hatten einen hohen Eigenverbrauch und das Rückgangsverhältnis war < 0,8. Siemens setzte 1902 Klappanker beim Überstromzeitschutz ein.
Sie haben sich insbesondere beim Hilfsrelais (Abb. 19) durchgesetzt. Mit dem Drehankerrelais wurde später bei einem geringen Eigenverbrauch ein Rückgangsverhältnis von etwa 0,85 erreicht.
Abb. 19 Hilfsrelais RH531, S&H
Bei dauermagnetischen Relais beruht die Arbeitsweise auf der Wirkung zwischen einer stromdurchflossenen Spule und einem Dauermagneten. Mit dem 1930 entwickelten Drehspulrelais (Abb. 21) gelangt ein hochempfindliches Messrelais mit großer Genauigkeit zum Einsatz.
Abb. 20 Dauermagnetische Relais
Abb. 21 Drehspulrelais, Siemens, 1960
Überstromzeitschutz
Schon 1891 schlägt C. Dedreux einen verzögerten Überstromauslöser vor, DRP Nr. 59 192 (Abb. 22). Es ist kein eigentlicher Überstromauslöser, sondern die Einrichtung soll nur verhindern, dass die Batterie unnötig längere Zeit belastet wird. Das Prinzip entspricht aber einem Überstromauslöser. Erhielt ein Magnet E Strom, so wurden die Zahnräder z und z’ gedreht und die Laufrinne, die schlangenförmig (senkrecht zur Bildebene) ausgeführt war, in die gezeichnete Lage gebracht. Dann lief die Kugel g nach rechts, fiel in die Vertiefung i und unterbrach dann den Kontakt k. Bei kürzerer Stromdauer ging die Rinne d wieder in die Ursprungslage zurück und der Kontakt k wurde nicht geöffnet. [6]
Abb. 22 Zeitverzögerter Auslöser mit Zeitkugel, Dedreux, 1891
Aus Selektivitätsgründen wurde die Einführung einer Zeitverzögerung erforderlich. Den Ausdruck „Selektivität“ kannte man in dieser Zeit zwar schon, er wurde allerdings zunächst nur in der Fernsprechtechnik zur Unterscheidung von intermittierenden und dauernden Strömen verwendet. Im Jahre 1901 erfolgt die Einführung des Überstromschutzes noch ohne Zeitstaffelung. Die spätere starre Zeiteinstellung wurde durch ein nachgeschaltetes getrenntes Zeitglied in Form eines Uhrhemm- oder Windflügelwerkes, Ölkolben, Lederbalgs o. ä. erreicht, das im Störungsfall von einem Elektromagneten über eine durchgespannte Zugfeder mit konstanter Geschwindigkeit zum Ablaufen gebracht wurde (Abb. 23 und 24).
Abb. 23 Zeitrelais mit Uhrwerk Rs104, S&H
Abb. 24 Überstromrelais RA1, S&H, 1925
Die Entwicklung der verzögert und unverzögert wirkenden Überstrom-Schutzeinrichtungen erfolgt um 1900. Es handelt sich um den gleichzeitig auf den Markt kommenden, auch heute noch eingesetzten Überstromzeitschutz in den Ausführungen unabhängiger Überstromzeitschutz oder auch im deutschsprachigen Raum UMZ-Schutz, thermischer Überstromzeitschutz oder auch AMZ-Schutz und als Überlast- und Kurzschlussschutz die Kombination aus UMZ und AMZ bzw. BMZ-Schutz genannt (Abb. 25 und 46).
Abb. 25 Kennlinien des Überstromzeitschutzes
1905 konstruiert und installiert ASEA das erste Schutzrelais, den Überstromzeitschutz Typ TCB (Abb. 26).
Abb. 26 Überstromzeitschutz TCB, ASEA, 1905
Es ist bemerkenswert, dass es sich bei den ersten Überstromrelais um AMZ-Relais handelte, die von einer Ferrarisscheibe angetrieben wurden. Damit sollte eine Anpassung an die Kennlinien der bis dahin benutzten Bleistreifensicherungen erreicht werden. Bei der Drehstromausführung dieses ersten AEG-Relais wirkten zwei von den Strömen verschiedener Leiter durchflossene Triebsysteme auf eine gemeinsame Aluminiumscheibe ein. Durch das kreisförmige Magnetjoch ergab sich die für alle Relais eingeführte kreisrunde Form des Gehäuses. [12]
Abb. 27 Zweipoliges Überstromzeitrelais. AEG, 1903
Ein Überstromrelais mit Verzögerung wurde 1902 von Ch. Brown vorgeschlagen (Abb. 28). Hierbei wurde ebenfalls eine Ferrarisscheibe benutzt, welche ein Gewicht bei der Drehung anhebt. Mit der Änderung des Gewichtes 7 konnte der Ansprechwert und mit der Länge des sich auf der Trommel 5 aufspulenden Fadens 6 die Zeit des Schließens des Kontaktes 8 erreicht werden.
Abb. 28 Überstromrelais mit Verzögerung, BBC, 1902
Beim Zeitrelais Rs1, S&H (Abb. 29), betätigen die Gleichstromspulen einen kräftigen Drehanker. Dadurch wird der Laufkontakt frei, der unter der Kraft einer schon im Ruhezustand des Relais gespannt gehaltenen Feder vorläuft. Auf Wunsch wurde das Relais gegen Mehrpreis noch mit einem Vorkontakt versehen, der fest auf 0,5 s eingestellt war. Der Vorkontakt diente z. B. zur Betätigung von Richtungsrelais in Fehlerschutzschaltungen. Bei Fehlern innerhalb des geschützten Anlagenteiles löste das Zeitwerk über den Vorkontakt in 0,5 s, bei äußeren Fehlern mit der eingestellten Zeit von mehreren Sekunden aus (Reservezeit). Gegen einen Mehrpreis konnte man Schleppzeiger und Rückstelleinrichtung erhalten. Der rote Schleppzeiger wurde beim Ansprechen von dem Laufwerk über die Sekundenskala mitgeführt und blieb nach dem Zurückfallen des Relais stehen. Aus seiner Stellung ließ sich die Störungsdauer „und damit auch der Fehlerort“ erkennen. Durch Drücken eines Knopfes am Gehäuse konnte der Schleppzeiger zurückgestellt werden.
Abb. 29 Zeitrelais Rs1, S&H, 1925
Auch beim Unabhängigen Überstromzeitrelais RAS4, S&H (Abb. 30 und 31) wird die vom Strom unabhängige Laufzeit durch ein Ferraristriebwerk mit synchronisierter Laufscheibe erzielt. Ein im Streufeld liegender Anker, der unterhalb des Ansprechwertes die Laufscheibe festhält, gibt diese bei Überschreitung des Einstellwertes frei und kuppelt gleichzeitig den Kontaktarm mit der Laufscheibe. Durch Änderung der Federgegenkraft des Streuankers ist der Ansprechstrom einstellbar (obere Skala), durch Änderung des Kontaktweges die Laufzeit (untere Skala). Nach Verschwinden des Kurzschlussstromes fällt der Kontaktarm augenblicklich in seine Ausgangslage. Gegen einen Mehrpreis wurde ein von außen rückstellbarer Schleppzeiger beim Ablauf über die Sekundenskala mitgeführt und blieb nach dem Rückfallen des Relais stehen, wodurch die Dauer der Störung angezeigt wurde. [7]
Abb. 30 Aufbauunabhängiges Überstromzeitrelais RAS4, S&H, 1934
Abb. 31 Unabhängiges Überstromzeitrelais RAS4, S&H, 1934
Die runde Gehäuseform bei Abb. 32 bis 34 lässt erkennen, dass die bei Messgeräten verwendeten Messsysteme bei den Schutzgeräten zum Einsatz gelangten.
Abb. 32 UMZ-Relais Pl Nr. 69036G, AEG, 1914
Abb. 33 AMZ-Relais Pl Nr 69007, AEG, 1916
Abb. 34 AMZ-Relais Pl Nr 69043, AEG, 1923
Die Sekundärrelais benötigten zu ihrer eigenen Funktion und zur Betätigung des Hilfsauslösers (AUS-Spule) des (damals meist Ölkessel-)Schalters eine netzunabhängige Hilfsenergie. Diese wurde auch damals schon nach einem Patent aus dem Jahre 1886 von H. O. Tudor (L) aus dem Jahr 1886 aus einem Akkumulator bereitgestellt.
In unbedeutenden Anlagen wurde die Wandlerstromauslösung zur Betätigung des Relais und des Leistungsschalters benutzt. Interessant ist, dass bei den ersten Wandlerstromlösungen pro Phase zwei vollwertige Stromwandler eingesetzt wurden, von denen einer das Relais und der andere den Auslöser speiste. In Deutschland verwendet man etwa 1908 die Wandlerstromauslösung, die darin bestand, dass der Auslöser für das Schaltschloss am Stromwandler elektrisch angeschlossen war und nur von diesem mit Strom beschickt wurde (Abb. 35). Um auch hier eine verzögerte Auslösung zu erhalten, schaltete man parallel zum Auslöser eine Zeitsicherung, die nach Abschmelzen dem Überstrom den Weg in die Stromspule des Auslösers freigab (Cleveland-Schaltung). [12] Man erhielt auch hier eine Kennlinie analog der Sicherung.
Abb. 35 Wandlerstromauslösung mit Cleveland-Zeitsicherung, etwa 1908
Abb. 36 zeigt die Prinzipschaltung eines Zeitstufen-Überstrom-Zeitrelais mit Wandlerstromauslösung der AEG von 1934. Im ungestörten Betrieb fließt der Strom nur in Stromkreis I über den Öffner f, sodass die Leistungsaufnahme des Relais lediglich durch das Überstromanregeglied b mit etwa 5 VA gegeben ist. Beim Auftreten eines Überstromes öffnet b unverzögert, wonach sich der Strom in den Nebenschlusskreis II über die Erregerwicklung c des Hilfsschützes g und das Stufenwahlglied b’ fließt.
Abb. 36 Zweistufen-Überstromzeitschutz wandlerstrombetätigt, AEG, 1934
Die Wärmerelais mit Bimetallstreifen (Abb. 37) – zwei Metalle mit unterschiedlicher Wärmeausdehnung betätigen den Kontakt – kamen erst in den zwanziger Jahren zum Einsatz. Mit ihnen erreichte man ein thermisches Abbild der Wicklungserwärmung und somit ein gutes Kriterium zum Schutz gegen gefährliche Überlast.
Abb. 37 Bimetall-Sekundärrelais R1325, SSW, 1932
Als Zeitstaffelschutz hatte der AMZ-Schutz den Nachteil, dass die Auslösezeiten stark mit dem Maschineneinsatz schwankten. Dies wäre eigentlich erwünscht. Die damals zur Verfügung stehenden Relais verringerten jedoch die Auslösezeit nicht genau umgekehrt proportional dem Strom, sondern eher schneller. Es konnte dann der Fall eintreten, dass die Staffelzeiten zu klein wurden und die Selektivität nicht mehr gegeben war.
Die damaligen Schalter und Auslöser erforderten mindestens eine Staffelzeit von 0,5 bis 1,5 s. Die Zeiten der Relais gingen jedoch bei hohen Strömen bis zu Zeitunterschieden von 0,1 bis 0,2 s zurück.
Um eine Selektivität bei Kurzschlüssen zu erreichen, führte man eine zeitverzögerte Auslösung ein. Der unabhängige Überstromzeitschutz zeichnete sich dadurch aus, dass die bei ihnen eingestellte Verzögerungszeit von der Größe des Überstromes unabhängig ist, d. h. konstant bleibt. Sie ermöglichten eine feste Zeiteinstellung mit noch tragbarer Zeitstreuung und richteten die vorgesehene Zeitstaffelung für die hintereinander gestaffelten Betriebsmittel (z. B. Leitungen oder Transformator/Leitung) in Richtung zur Speisung (z. B. Generator) besser ein als die abhängigen bzw. begrenzt abhängigen Überstromzeitrelais. So wurde schließlich das bereits 1899 von Stillwell angegebene Überstromzeitrelais auch in Deutschland aufgegriffen, bei dem die Ablaufzeit von einem selbstständigen Zeitrelais erreicht wurde (Abb. 38 bis 40). [1]
Abb. 38 Unabhängiges Zeitrelais, Pat. von Stillwell, 1899
Abb. 39 Unabhängiges Zeitrelais, Niagara, 1899
Abb. 40 Maximalautomat mit Zeitglied, Niagara, 1899
Ein besonderes Problem stellte der Ölschalter dar. Es erscheint uns heute kurios, dass 1919 vorgeschrieben war, dass Ölkesselschalter erst nach einer Verzögerung von 1 s zur Auslösung gebracht werden sollen, da dann der Kurzschlussstrom auf einen niedrigeren Ausschaltstrom abgeklungen ist. Damit sollten die Schalter geschont und ihre Zerstörungen vermieden werden.
In einer Einstellvorschrift wurde 1919 eine Zeitverzögerung von 1 s gefordert. [10]
In Mitteilungen der Vereinigung der Elektrizitätswerke Nr. 276 von 1920 [2366] ist zu lesen:
Schutzrelaisplan der 20er Jahre
Mit der Entstehung von Verbundnetzen als vermaschtes Netz mit verteilten Kraftwerken Anfang der 20er Jahre treten Probleme auf, mit dem Überstromzeitschutz eine Selektivität bei Leitungsfehlern zu erreichen. Durch Erhöhung der Kommandozeit in Kraftwerksnähe versuchte man das Problem zu lösen. Die dabei sich ergebenden Kommandozeiten für den Kurzschlussschutz zeigt Abb. 41 für das 100-kV-Netz des Bayernwerkes von 1925 [11]. In Abb. 42 sind aus dem Schutzrelaisplan von 1922 (links vergrößert) die Einstellung im KW Zschornewitz, Feld 5 und 6, 110-kV-Leitung Berlin Friedrichsfelde, der Überstromanregewert von 200 A und die Kommandozeit von 10 s erkennbar.
Abb. 41 Kommandozeiten Kurzschlussschutz, 100-kV-Netz, BAG, 1925
Abb. 42 Auszug 110-kV-Schutzrelaisplan, 1922
Ein- und mehrpolige Schutzrelais
Da im isolierten oder kompensierten Netz bei Kurzschlüssen wenigstens zwei Leiter beteiligt sein müssen, setzte man aus Kostengründen gern nur in zwei Leitern, R(L1) und T(L3), Stromwandler und einpolige Relais bzw. Schutzrelais mit nur zwei Anregegliedern ein.
Aus Redundanzgründen bei Versagen eines Wandlers oder Anregegliedes ging man doch häufig auf dreipoligen Schutz über (Abb. 43).
Abb. 43 UMZ-Relais RSZ3f, AEG, 1935
Verkürzung der Auslösezeit durch Hochstromstufe
Zur wesentlichen Herabsetzung der Auslösezeiten bei diesem Schutzverfahren wurde 1934 von M. Walter, AEG, ein Ergänzungsvorschlag unterbreitet. Beim Überschreiten eines bestimmten Stromwertes wird sprunghaft die Kommandozeit kleiner (Abb. 44). Das Zweistufenzeitrelais wird bei Überschreiten des Anregewertes des auf etwa 6 bis 10 A einstellbaren Überstromanregegliedes b unverzögert an die Batterie gelegt und bewegt daraufhin mit konstanter Geschwindigkeit seine Kontaktbrücke f in Pfeilrichtung auf die Kontaktpaare 1 und 2 zu. Bei großen Kurzschlussströmen regt das beispielsweise auf etwa 25 bis 50 A einstellbare Glied b’ auch an, so wird die Auslösung des Leistungsschalters e durch das mit 1 bezeichnete Kontaktpaar nach einer kurzen Relaisauslösezeit t1 veranlasst. Die Relaisschaltung ist im Prinzipschaltbild einpolig dargestellt. Für zwei- oder dreipolige Anregung kommen zu den einzigen Stufenzeitrelais nur noch die fehlenden Überstromanregeglieder der übrigen Leiter hinzu. [8]
Abb. 44 Zweistufen-Überstromzeitschutz, Walter, AEG, 1934
Geht man davon aus, dass bei einem beliebigen Kurzschlussort in einem Leitungsstrang in Abb. 45 die Spannung in a starr bleibt, kann nach einer Berechnung der Einstellwert der Hochstromstufe so eingestellt werden, dass auf einem großen Leitungsabschnitt – ähnlich dem Distanzschutz – eine Schnellabschaltung erreicht wird.
Abb. 45 Zeitkennlinie Stufen-Überstrom-Zeitschutz, Walter, AEG, 1934
Begriffe Schutzarten
Kuhlmann schlägt 1908 in der ETZ zum ersten Mal die Ausdrücke „unabhängig“ und „abhängig“ für Auslöser und Relais vor. [5] Die – auch heute noch verwendeten – Arten des Überstromzeitschutzes sind in Abb. 46 zusammengestellt.
Abb. 46 Arten des Überstromzeitschutzes
Während heute im deutschsprachigen Raum der Begriff „Überstromschutz“, im englischsprachigen Gebiet „overcurrent protection“, franz. „protection à maximum de courant“ verwendet wird, spricht man in der Schweiz von „Maximalstromschutz“.
Quellen
1 M. Vogelsang, Die geschichtliche Entwicklung der Hochspannungs-Schalttechnik, zweiter Band, Geschichtliche Einzeldarstellungen aus der Elektrotechnik, Berlin 1929
2 H. Bessei, Sicherungshandbuch. Hg. NH/HH-Recycling e.V., 5. aktualisierte Auflage 2011
3 G. Schöllhorn, Elektrotechnik in Nordbayern. Eine Dokumentation, 75 Jahre VDE-Bezirksverein Nordbayern e.V., Hg. VDE-Bezirksverein Nordbayern e.V. 1985
4 H. Clemens; K. Rothe, Schutztechnik in Elektroenergiesystemen, 3. Auflage, Berlin 1991
5 Kuhlmann, Besondere Schutzeinrichtungen gegen gefahrbringende Ströme in elektrischen Netzen. In: ETZ 1908, S. 316
6 H. Titze, Die Entwicklung des Selektivschutzes für elektrische Anlagen, erweiterte Fassung einer im Konrad-Matschoss-Preisausschreiben 1962 ausgezeichneten Arbeit
7 -; Ein neues unabhängiges Überstrom-Zeitrelais. In: ETZ 48/1934, S. 1178
8 M. Walter, Neue Verfahren beim Überstrom-Zeitschutz. Erweiterter Sonderdruck aus: ETZ 55/1934, S. 206–208, AEG, Rs/V 1218, März 34
9 R. Ulbricht, Ein neuartiges Primärrelais für Mittelspannungsschaltanlagen. In: Energietechnik 19/1969, S. 35–38
10 J. Biermanns, Über den Schutz elektrischer Verteilungsanlagen gegen Überströme. In: ETZ 40/1919, S. 593–597; 48/1919, S. 612–617 und 50/1919, S. 648–653
11 A. Menge, Das Bayernwerk und seine Kraftquellen, Berlin 1925
12 B. Schweder, Forschen und Schaffen, Beiträge der AEG zur Entwicklung der Elektrotechnik bis zum Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg, Band 1–3, Hg. AEG, Berlin 1965