Qualitäts­sprung durch System­basierte End-To-End-Überprüfung

Der häufigste Grund für ein Fehlverhalten des Schutzes hängt mit Einstellungs-, Logik- und Designfehlern zusammen, nicht zuletzt aufgrund zunehmender Komplexität heutiger Schutzsysteme. Gerade der Leitungsdifferentialschutz ist ein typisches Beispiel. Für jedes Prüfgerät und jeden Prüffall waren hier bislang eigene Testpläne und Sequenzen zu erstellen, die separat berechnet und bewertet wurden. Mit der Zusammenfassung von drei Kernfunktionen des Testprozesses in einer Prüfsoftware hebt OMICRON elec­tronics die Sicherheit und Korrektheit der Testergebnisse bei Systemprüfungen auf ein neues Niveau.

von Christopher Pritchard Datum 02.06.2017

Leitungsschutz

Bei der Inbetriebnahme eines Schutzsystems sind die Unternehmen stets bestrebt, die Relais so zu prüfen, wie sie auch später im Betrieb eingesetzt werden. Ein Leitungsdifferentialschutz realisiert seine Funktion über zwei oder mehrere Relais, die, verteilt über verschiedene Umspannwerke, miteinander kommunizieren. Um also einen Leitungsdifferentialschutz betriebsnah oder realitätsnah zu prüfen, braucht es eine zeitlich hoch genaue synchrone Simulation einer Fehlersituation an jedem Ende der zu schützenden Leitung, auch als End­to-End-Prüfung bezeichnet. Bei End-to-End-Prüfungen wurde bisher für jedes Ende eine Testsequenz separat erstellt. Ein neuer Ansatz verbessert im Vergleich dazu die Qualität der Prüfungen und reduziert den Aufwand deutlich. 

DER END-TO-END-TEST ALS SYSTEM­PRÜFUNG 

Der primäre Grund für End-to-End-Prüfungen ist das Testen der Kommunikationsverbindung. Sie können jedoch auch als Systemprüfung dienen. Studien wie die NERC Study [1] haben gezeigt, dass der häufigste Grund für ein Fehlverhalten des Schutzes mit Einstellungs-, Logik- und Designfehlern zusammenhängt. Dies ist der Komplexität der Netze und den wachsenden Anforderungen geschuldet, welche eine immer größere Anzahl von Schutz- und Logikfunktionen sowie Relais zur Folge haben. Eine Systemprüfung kann eine unschätzbare Hilfe sein, Fehler zu erkennen, die daraus resultieren können. Ist bereits der Sollwert falsch eingestellt, prüft ein einzelner Schwellwerttest nur noch die korrekte Übernahme des falschen Wertes durch das Relais. Bei der Berechnung des End­to-End-Tests mit Hilfe einer Netzsimulation ist es möglich, diesen Fehler aufzudecken. Wird ein Fehler auf der Leitung bei 70 % simuliert und ausgeführt, lässt sich beurteilen, ob die Einstellungen tatsächlich einen Fehler bei 70% in der erforderlichen Zeit auslösen. Logikfehler treten besonders häufig in der Koordination der einzelnen Komponenten miteinander auf. Unterschiedliche Pausenzeiten bei einer automatischen Wiedereinschaltung (AWE) zwischen den Enden sind mit einem End-to-End-Test leicht zu identifizieren. Die Koordinierung bezieht sich jedoch nicht nur auf den Differentialschutz, denn er kommt selten allein zum Einsatz, da sonst der Reserveschutz fehlen würde. Häufig enthält deshalb ein Relais zusätzlich eine Distanzschutzfunktion plus einen Signalvergleich oder eine Messbereichserweiterung oder es ist ein separates Reserveschutzrelais mit diesen Funktionen verbaut. Dass jedoch auch in der Koordination zwischen Haupt- und Reserveschutz Fehler auftreten, die erst durch einen systembasierten Prüfansatz gefunden werden können, zeigen praktische Erfahrungen wie beispielsweise beim irischen Energieversorger ESB [2]. die durch den weiter unten beschriebenen Ansatz gefunden wurden. 

SCHWÄCHEN EINER „KLASSISCHEN” END-TO-END-PRÜFUNG 

Die Vorbereitung eines klassischen End-to­End-Tests ist üblicherweise sehr aufwendig. Um auch als Systemprüfung zu funktionieren, sollten die Ausgabewerte auf realistischen Fehlersimulationen basieren. Das bedeutet, dass für jeden Prüffall und jedes Prüfgerät jeder Zustand separat berechnet bzw. exportiert werden muss. Anschließend ist jeder Prüffall in der gleichen Reihenfolge in die jeweiligen Testpläne zu importieren. Noch schwieriger wird das Erstellen der Sequenz beim Testen der Logik. Wird ein Zustandswechsel beispielsweise durch ein Leistungsschalter (LS)-Auskommando nur an einem Ende ausgelöst, müssen sich die Spannungs- und Stromsignale auch am anderen Ende der Leitung ändern. Aufgrund der Entfernung der Prüfgeräte zueinander können Binärtrigger nur eingeschränkt verwendet werden. Zeitabläufe müssen also genau bekannt sein, um solche Sequenzen mit Zeittrig­gern aufzubauen. Außerdem benötigen alle beteiligten Prüfer ein gleich gutes Verständnis des Prüfablaufs. Der auszuführende Test muss klar kommuniziert werden, damit die jeweils richtige Sequenz an allen Enden zeitgleich ausgeführt wird. Dies ist häufig eine Fehlerquelle. Zur Beurteilung, ob das System den Test bestanden hat, müssen die Resultate der einzelnen Enden wieder über das Telefon kommuniziert werden. Die erfolgreiche Durchführung einer einzelnen Prüfung dauert dadurch mehrere Minuten. Schlägt der Test fehl, müssen unter Umständen Änderungen an der Testsequenz vorgenommen werden. Dieser Prozess gestaltet sich per Telefon äußerst mühselig und fehleranfällig. 

DAS RICHTIGE WERKZEUG MACHT DEN UNTERSCHIED 

Zur Verbesserung des End-to-End-Testpro­zesses wurden drei Kernfunktionen zu einer innovativen Prüfsoftware zusammengesetzt:

1. Transiente Netzsimulation zur Berechnung der Prüfgrößen.
2. Zentrale Steuerung von Prüfgeräten von nur einem PC.
3. Iterative Closed-Loop als patentierte Lösung zum Prüfen verteilter Logik. 

Der Einsatz einer Netzsimulation bietet zwei Vorteile. Eine auf Netzdaten basierende Systemprüfung kann Fehler in den Einstellungen abfangen. Zudem bietet die integrierte Netzsimulation eine enorme Vereinfachung und Zeitersparnis bei der Vorbereitung und Durchführung eines End-to-End-Tests. Im besten Fall müssen nur die primäre Leitungsimpedanz, die Wandlerverhältnisse und optional die Kurzschlussströme an der Sammelschiene eingegeben werden. Für die einzelnen Testfälle sind dann lediglich ein Fehler an der gewünschten Stelle zu positionieren und die Bewertungskriterien zu definieren. Das ist in wenigen Minuten erledigt und muss aufgrund der zentralen Steuerung der Prüfgeräte nur einmal gemacht werden. 

Unter zentraler Steuerung ist zu verstehen, dass eine Applikation von einem PC aus mehrere Prüfgeräte zeitsynchronisiert steuert. Abb.1 

Abb. 1 Testaufbau für zentralisierte Systemprüfung

Die integrierte Netzsimulation berechnet zum Zeitpunkt der Ausführung die Signale für alle Enden zeitgleich und korrekt. Abb.2 

Abb. 2 Berechnung der Testsignale in OMICRON RelaySimTest

Die Signalverläufe werden auf die jeweiligen Prüfgeräte gespielt und der synchrone Startzeitpunkt für alle Prüfgeräte eingestellt. Nach der Ausführung sammelt das Prüfsystem von allen Prüfgeräten die aufgezeichneten Binärspuren (zum Beispiel die Aus-Kommandos) ein und bewertet sie. Der gesamte Prozess wird von nur einem Prüfer durch Drücken des Start-Knopfs initiiert – nicht anders als bei Einzelrelaistests. Zusätzlich zur sofortigen Bewertung der Prüfung wird ein zusammenhängender Prüfbericht erstellt. Muss bei einem fehlgeschlagenen Test die Prüfung angepasst werden, kann der Prüfer vor Ort den Fehler verschieben und den Test sofort wiederholen. Für die Verbindung zwischen PC und Prüfgerät lässt sich entweder eine direkte Verbindung oder eine einfache Internetverbindung nutzen. Zur Kommunikation über das Internet ist am fernen Ende ebenfalls ein PC mit Internetver­bindung erforderlich. Dieser stellt jedoch nur den Zugang zum angeschlossenen Prüfgerät über eine passwortgeschützte Cloud-Verbindung der Hauptapplikation her. Die Vorteile bestehen weiterhin. 

Die Prüfung der Logik sollte keinesfalls vernachlässigt werden. Der speziell entwickelte iterative Closed-Loop-Algorithmus reduziert dabei die Komplexität der Logikprüfung deutlich. Der Prüfablauf für eine AWE veranschaulicht den Prozess hier beispielhaft. Der Nutzer positioniert dazu weiterhin lediglich einen Fehler auf der Leitung. Bei der Ausgabe der Fehlerströme reagieren die Relais nach einer bestimmten Zeit mit einem Aus-Kommando. Wegen der verteilten Prüfgeräte ist es nicht möglich, schnell genug mit neuen Signalverläufen an allen Enden zu reagieren. Deshalb startet die Applikation selbsttätig den nächsten Durchlauf bzw. die nächste Iteration. Diese Iteration beginnt mit denselben Fehlerströmen. Da auch diesmal dieselben Auslösezeiten erwartet werden, wurde bereits vorab das Öffnen des LS in die Sequenz eingefügt. Nach der erfolgreichen Auslösung reagieren die Relais nun mit einem Einschalt-Befehl. Die nächste Iteration startet. Diese beinhaltet den Fehlereintritt, die Auslösung und neu das Schließen des LS. Der iterative Closed-Loop führt den Prozess automatisch so lange durch, bis die komplette AWE-Sequenz geprüft wurde. Der Prüfer muss dabei weder die Pausenzeiten definieren noch ob es sich um eine einpolige oder dreipolige AWE handelt. Fehlerhafte Logik oder Koordination sind sofort zu erkennen. 

FAZIT 

Über die letzten Jahre wurden mit dieser neuen innovativen Prüflösung viele Fehler gefunden und viel Zeit gespart. Mit dem richtigen Werkzeug sollte also eine End-to-End-Prüfung fixer Bestandteil jeder Leitungsschutz-Inbetriebnahme (Differential- und Distanzschutz mit Signalvergleich) sein. Darüber hinaus sei erwähnt, dass sich eine solche Prüflösung auch bei anderen verteilten Schutzsystemen einsetzen lässt, wie etwa bei Sammelschienendifferentialschutz, rückwertiger Verriegelung, LS-Versagern und vielen mehr. Durch die transiente Simulation können zudem transienter Erdfehlerschutz, Pendelsperren und andere transiente Funktionen getestet werden. 

QUELLEN 

1 Protection System Misoperations Task Force, “Misoperations Report”, North American Electric Reliability Corperation (NERC), Atlana 2013 

2 Eoin Cowhey (ESB International, Ireland), Alan Rossiter (ESB Networks, Irland): Erfahrungen eines Energieversorgers mit systembasierter „End-to­End“-Prüfung von Schutzsystemen im EHV-Bereich, Protection & Testing Conference & Workshop, Crewe Hall, 2016 

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Zur selektiven und schnellen Messung des Distanzschutzes ist vor allem die Verfälschung von Messgrößen aufgrund von Stromwandlersättigung auf definierte Grenzen zu beschränken. Im folgenden Beitrag...

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