REICHWEITEN UND STAFFELZEITEN GRUNDSÄTZE
Beim Distanzschutz sind bereits die Wahl des richtigen Anregeverfahrens und dessen Anregewerte entscheidend für einen sicheren Schutz von Leitungen. Mit der korrekten Zonendefinition und Auslösezeit ist für Phasenfehler ein hohe Zuverlässigkeit gewährleistet. Die richtige Erdschlussbehandlung ist in kompensierten Netzen vor allem für ein einheitliches Auslösen bei Doppelerdschlüssen erforderlich. Um all dies in seiner Komplexität überprüfen zu können, ist die Unterstützung moderner Simulationswerkzeuge unumgänglich.
Der Distanzschutz ermöglicht, dass Kurzschlüsse auf der zu schützenden Leitung in Schnellzeit abgeschaltet werden. Dies wird erreicht, indem die Fehlerimpedanz mit den durch Strom- und Spannungswandler gewonnenen Messgrößen ermittelt und mit der Leitungsimpedanz verglichen wird. Damit eine Abschaltung von Fehlern kurz hinter der nächsten Selektivstation in der Schnellzeit vermieden wird, kann die Einstellung der Kippstufe jedoch nicht auf 100 % der Leitungsimpedanz vorgenommen werden. Um einen selektiven Reserveschutz zu erreichen, sind Staffelzeiten vorzusehen.
Anregung
Eine Fehlererkennung erfolgt durch die Anregung. Sie startet bei kurzschlussartigen Fehlern im Distanzrelelais integrierte Mess-, Richtungs- und Zeitglieder sowie Pendelsperre u. a. Sie hat weiterhin die Aufgabe, leiterselektiv die Leiter-Leiter- bzw. Leiter-Erde-Größen dem Mess- und Richtungsglied zuzuführen, Störschreiber anzuregen und die Fehlerkärung zu registrieren. Die Anregearten sind die Überstrom- und die Impedanzanregung. Leitungsschutzeinrichtungen werden üblicherweise als Kurzschlussschutz eingestellt. Die Anregung muss die nachstehend geforderten Eigenschaften aufweisen:
- Sie muss verlässlich bei allen Kurzschlüssen sowohl im eigenen Selektionsabschnitt als auch in den Selektionsabschnitten, für die dieser Schutz Reserveschutzaufgaben wahrnimmt, erfolgen.
- Sie muss sicher sein gegen Überfunktion im ungestörten Betrieb und darf auch bei hoher Betriebslast und Schalthandlungen nicht ansprechen.
- Sie muss leiterselektiv arbeiten, um eine konforme Messgrößenauswahl für die Richtungs- und Distanzmessung zu treffen. Bedarfsweise steuert sie den Ablauf der einpoligen AWE durch Bereitstellung von leiterselektiven Signalen.
Überstromanregung
- Der Anregewert muss über den maximal zu erwartenden Belastungsstrom (I Lo max) liegen und wiederum so tief sein, dass im Fehlerfall dieser Wert auch erreicht wird
- Für oberen Wert gilt der minimal zu erwartende Kurzschlussstrom. Beim generatorfernen Fehler (für den Netzfehler allgemein zutreffend) ist dies der zweipolige Kurzschluss I kmin = UN /2Z.
- Bei der unteren Grenze ist das Rückgangsverhältnis zu beachten.
- Die Berücksichtigung von Sicherheitsfaktoren ist wichtig.
Die im Leitfaden Schutztechnik [1] enthaltenen Empfehlungen hierzu sind:
Zuverlässigkeit der Schutzanregung
Die Zuverlässigkeit ist sowohl die Eigenschaft sicher gegen Falschanregungen im störungsfreien Betrieb zu sein (Anregesicherheit) als auch bei Kurzschlüssen auf den zu schützenden Selektionsabschnitten verlässlich anzuregen (Anregeverlässlichkeit):

Abb.1 Zulässiger Einstellbereich der I> Anregung lt. [1]
Anregesicherheitsfaktor fAS für Lastbedingungen
Die Anregesicherheit garantiert Stabilität und verhindert Fehlauslösungen im störungsfreien Betrieb. Der errechnete Wert IAL stellt die untere Grenze für einen möglichen Anregewert lt. Abb.1 dar. Tab.1 enthält die sich aus Gl. 1 und 2 ergebende Anregesicherheit.
Gl. 1

Gl. 2

Mit Gl. 1 und Gl. 2 entsteht Gl. 3:

fÜL Überlastfaktor, max. Betriebsstrom im gestörten Netzbetrieb bezogen auf Izul
fM max. Messfehler Schutzeinrichtung einschl. Wandler fM= 0,9
fS Sicherheitsfaktor (üblicher Wert fS = 0,9)
ftransient Faktor transiente Übergänge, wie Anlaufströme von Motoren (nur erforderlich, wenn diese über te andauern, sonst = 1)
RV Rückfallverhältnis der Schutzanregung, elektromech.: 0,8...0,85; digital: 0,95
Izul zulässige Dauerbelastbarkeit der zu schützenden Betriebsmittel

Tabelle 1 Anregesicherheit
Anregeverlässlichkeit fAV-I bei Kurzschlüssen
Mit Formel Gl. 5 zur Berechnung der oberen Grenze des Anregestromes wird, nach Prüfung mit dem minimal, auftretenden Kurzschlussstrom, eine zuverlässige Auslösung garantiert.
Gl. 4

Gl. 5


Tabelle 2 Anregeverlässlichkeit
Beispiel:
NA2XS(F)2Y 3x1x150mm2 in Dreiecksanordnung
I th = 280A
I Wdl,Primär = 300A
I Wdl, Sekundär = 1A
Doppelleitung Anregesicherheitsfaktor f AS =1,7 lt. Tab. 1
I A = 1,7 I th = 1,7 280A = 476A Gl. 6
gewählt 480A primär / 1,6A sekundär
Bei einer Anregeverlässlichkeit f AV > 1,8 lt. Tab. 2 muss Ikmin sein:
I kmin > 1,8 . 480A = 864A Gl. 7
D.h. eine übliche Überstromanregung von 1,6 InomWdl bei einem 150-mm2-PE-Kabel mit einem sich ergebenden thermischen Grenzstrom von 280 A und eingebauten 300/1-A-Wandlern ergibt, dass bei Kurzschlüssströmen ab rund 1 kA die Bedingungen erfüllt sind.
Die vorhandene Nullstromanregung ist im isolierten oder kompensierten Netz keine „Anregung“, sondern dient zur Messgrößenumschaltung bei Doppelerdschlüssen und wird üblicherweise auf 0.4 Inom Wdl eingestellt. Im niederohmig geerdeten Netz dient sie als Start für den Nullstromzeitschutz.
U-I-Anregung
In Fällen bei denen die Überstromanregewerte nicht erreicht werden (z. B. Dezentrale Einspeiser) wird die spannungsgesteuerte Überstromanregung (U-I-Anregung) genutzt.
Impedanzanregung
Ähnlich verhält es sich in vermaschten Netzen (z. B. 110 kV), sodass eine R-X-Anregung zum Einsatz kommt. Die Einstellwerte bei einer U-I- und R-X-Anregung werden in einem späteren Beitrag behandelt.
Fehlerklärungszeit
Als Fehlerklärungszeit wird die Zeit vom Fehlereintritt bis zur Fehlerstromunterbrechung (also Relaiseigenzeit + Relaiskommandozeit + Schaltereigenzeit + Lichtbogenunterbrechung) verstanden. Unter Berücksichtigung bestehender Richtlinien und Empfehlungen sowie Praxiserfahrungen sind in Tabelle 3 erforderlichen Fehlerklärungszeiten für die Betriebsmittel zusammengestellt.[2]

Tabelle 3 Fehlerklärungszeiten

Abb. 2 Auswirkungen durch große Fehlerklärungszeit
Abb. 2 zeigt, dass hier offensichtlich die Fehlerklärungszeit zu groß gewesen ist. Aber auch bei luft- oder gasisolierten fabrikmäßig gefertigten Schaltzellen gelten einzuhaltende Fehlerklärungszeiten. Hierbei muss für innen- und außenliegende Fehler unterschieden werden (Abb.3). Während für den außenliegenden Fehler ein großer Bemessungs-Kurzzeitstrom (in dem Fall 3 s) angegeben wird, ist der Fehler in der Schaltanlage innerhalb 1 s herauszutrennen. für 110-kV-GIS-Anlagen gelten sogar 0,2 s für den Haupt- und 0,5 s für den Reserveschutz.
Bei den geforderten Fehlerabschaltzeiten muss unterschieden werden zwischen:
- Bemessungs-Kurzzeitstrom Ik mit Bemessungs-Kurzdauer tk: z. B. Ik=16 kA; tk= 3 s
- Störlichtbogenqualifikation IAC AFL (Internal Arc Classified - IAC) Werte sind auf dem Typenschild anzugeben z. B. IAC AFL 16 kA 1 s

Abb. 3 Fehlerklärungszeiten bei Mittelspannungsschaltanlagen
Weitere Gründe für eine schnelle Fehlerheraustrennung sind:
- zulässige Kabelmantelbelastung beim oppelerdschluss
- VDE 0101
- EN 50160
- Versorgungsunterbrechung
Staffelplan
Abb. 4 zeigt das Verhalten von U und I in einer homogenen Leitung (z. B. alles 150 mm2 PE) bei einem dreipoligen Kurzschluss. Der Strom allein ist kein Kriterium für die Selektivität. Anders die Impedanz Z = U/I als Indikator für die Entfernung.

Abb. 4 Zeigerdiagramme von Strom und Spannung bei einem dreipoligen Kurzschluss
Während die Lade- und die Kapazität gegen Erde für den Kurzschlussschutz keine Bedeutung haben, wird die Impedanz der Leitung durch den ohmschen Widerstand (Querschnitt und Material) und dem induktive Widerstand (vor allem abhängig vom Leiterabstand) und natürlich die Leitungslänge bestimmt (Abb. 5).

Abb. 5 Leitungsersatzschaltbild
Zur Ermittlung der Leitungswiderstände kann ein Excel-Programm genutzt werden. (Abb. 6)

Abb. 6 Excel-Programm zur Ermittlung der Leitungsdaten
Beim elektromechanischen Schutz stand als Messgröße für die Impedanz nur Z = U/I zur Verfügung. Bei einem insbesondere im Freileitungsnetz auftretenden Lichtbogenfehler kommt es zu Impedanzvergrößerungen und somit zu Unterreichweiten bei den Kippunkten und somit zu ungewollten Fehlerzeiterhöhungen. Beim digitalen Schutz orientiert sich die Messung auf den induktiven Widerstand und der zu erwartende Lichtbogenwiderstand wird zusätzlich eliminiert. So wird als Staffelplan t = f (X).
Um eine Selektivität zu den folgenden Leitungen zu erhalten muss ein Sicherheitsabstand eingehalten werden, der
- die Abbildtreue der Strom- und Spannungswandler,
- den Messfehler der Schutzeinrichtungen sowie
- die Ungenauigkeit der Leitungsimpedanzen
berücksichtigt (Abb. 7).

Abb. 7 Staffelfaktor
Damit immer 15 % Sicherheitsabstand (wie es das Relais in A sieht) eingehalten werden, ergibt sich ein
Staffelungsfaktor:
f S = X Zone / X zu überstaffelnde Impedanz = 0,85 GL. 8
Eingeschleifte Ortsnetzstationen (n und m in Abb. 8) werden überstaffelt. Handelt es sich um einen Ring, so wird in der letzten Station C in Richtung A' (untere Kennlinie) X 1CA als Reichweite über die Sammelschiene hinaus (z. B. 2X CA) eingestellt.

Abb. 8 Staffelplan
Einstellregeln
Nachstehende Einstellregeln [1][5]werden empfohlen:
Strahlen- und Ringnetze:
X 1 = 0,85 XAB GL. 9
X 2 = 0,85 XAB + 0,72 XBC (BC ist die kürzeste von B abgehende Leitung) GL. 10
X 3 = 0,85 XAB + 0,72 XBC + 0,61 XCD (BC und CD sind die kürzesten von B und C abgehenden Leitungen) Gl. 11
X Ü = 1.25 XAB Gl. 12
Maschennetze:
X 1 = 0,85 XAB Gl. 13
X 2 ≥ 1,25 XAB Gl. 14
X 3 ≥ 1,25 (XAB + XBC) (BC ist die längste von B abgehende Leitung) Gl. 15
X Ü = 1,25 XAB bei Einfachleitungen Gl. 16
X Ü = 1,35 XAB bei Mehrfachleitungen Gl. 17
Staffelzeit
Δt = 0,3 s bei digitalem Schutz
Δt = 0,4 s bei elektromechanischem Schutz
Stufenzeiten:
- t1=0s, t2=0,3s, t3=0,6s ... bei digitalen Relais
- t1=0,1s, t2=0,5s, t3=0,9s ... bei elektromechan. Relais
- Endzeit te normalerweise |→ und Grenzzeit tg ↔
- im Einspeispunkt (z.B. MS-Abg. im UW) te = tg ↔
Als Werkzeug für die Erstellung von Staffelplänen bei Stich- und Ringleitungen steht ein Exel-Programm zur Verfügung, bei dem die Leitungs- und Wandlerdaten sowie die Stufenzeiten eingegeben werden

Abb 9 Excel-Programm Staffelplan – Netzdateneingabe

Abb. 10 Excel-Programm Staffelplan

Abb. 11 Excel-Programm Staffelplan –Relaiseinstellblatt
Die Excel-Programme für die Ermittlung der Leitungsdaten und die Erstellung des Staffelplanes können kostenlos vom Autor bezogen werden. [6]
Die Umrechnung der Primär- auf Sekundärwerte nimmt natürlich das Exel-Programm vor. Soll eine Umrechnung ohne Programm erfolgen, so gilt:
Umrechnung der primären Impedanzwerte
Für die Kippstufen und die Impedanzanregung werden die errechnten, primären Impedanzwerte auf sekundäre Einstellwerte umgerechnet:
Gl. 18

Gl. 19

Gl. 20

Gl. 21

Umrechungsbeispiel
Spannungswandler 20000/100V
Stromwandler 200/5A
Kippwert X1 Prim = 1,0 Ω
Gl. 22

Gl. 23

Automatische Wiedereinschaltung
Um 100 % der Leitung durch die AWE zu erfassen, wird
X ü = 1,25 XAB bei Einfachleitungen und
X ü = 1,35 XAB bei Mehrfachleitungen
t Pause = 0,4 …0,6 s
empfohlen.
Lichtbogenwiderstand

Tabelle 4 Lichtbogenwiderstände
Erdfaktor
Der Erdfaktor berücksichtigt die unterschiedlichen Impedanzverhältnisse bei den Fehlern Leiter-Leiter (mehrpoliger Kurzschluss) und Leiter-Erde (Doppelerdschluss bzw. Erdkurzschluss). Er errechnet sich aus:
GL. 24

110-kV-Freileitungen f E = 0,7
Mittelspannungsnetz: f E = 1,0 für Freileitung und f E = 0,4…1,0 für Kabel
Not-UMZ
Um eine weitgehende Selektivität zum nach- und vorgeordneten Distanzschutz zu erreichen, wird eine Zeiteinstellung für den Not-UMZ-Schutz t I> = 0,3 s empfohlen.
Fehlerortung
Hierzu wird ein Durchschnittswert gebildet, indem die induktiven Widerstände n der Teilstücke durch die Gesamtlänge dividiert werden.
Leiterbevorzugung
Für eine Ring- oder vermaschte Fahrweise wird eine Leiterbevorzugung genutzt, damit im Doppelerdschlussfall nur ein Fußpunkt herausgetrennt wird (Bild 12) und die andere Leitung mit Erdschluss weiterbetrieben werden kann (bei Stichversorgung ist dies normalerweise nicht gegeben). Hierzu mus im Netz eine einheitliche Bevorzugung eingestellt werde, Empfohlen werden eine Leiterbevorzugung L3 vor L1 vor L2 (bzw. T vor R vor S).

Abb. 12 Azyklische Doppelerdschlusserfassung
Schalten auf Fehler
Um bei einer Zuschaltung bei geschlossenem Erdungstrenner in der Gegenstation bzw. vergessenen Arbeitserder eine unverzüglich Wiederausschaltung zu sichern, wird bei Einschaltung und Schutzanregung unverzögerte Auslösung vorgeschlagen.
Test der Selektivität
Für die Bewertung und Kontrolle des Haupt- und Reserveschutzes bei den verschiedenen Fehlerarten mit Lichtbogeneinfluss und bei unterschiedlichen Schaltzuständen empfiehlt sich der Einsatz eines Rechenprogrammes. Als praktikable Fehlersimulationsprogramme haben sich SIMP (Abb. 13) [3] und RelSimTest (Abb. 14) [4] erwiesen.

Abb. 13 Schutzmeldungen bei simuliertem Schutzversager, SIMP

Abb. 14 Simulationsbasierte Prüfung eines Distanzschutzes, RelSimTest
Spezielle Hinweise, wie z. B. Impedanzanregung in vermaschten 110-kV-Netzen bzw. Transformatoreneinspeisungen oder die Berücksichtigung von dezentralen Einspeisern, werden in einem späteren Teil behandelt.
Literatur
1 Leitfaden zum Einsatz von Schutzsystemen in elektrischen Netzen. VDE-FNN / VEÖ. Ausg. September 2009 und Anhang für die Schweiz. VSE/AES. Ausgabe: 17.11.2011.
2 Hinz, K.; Schossig, W.: Schutzkonzeption für Gasisolierte Mittelspannungs- und 110-kV -Schaltanlagen (GIS). OMICRONcamp Anwendertagung 2012, Essen, 22.-24. Mai 2012, www.walter-schossig.de./AWT-2012-PPT-Hinz-Schossig-DEU.pdf
3 Kraut, H.; Schossig, W.: Bewertung und Kontrolle des Schutzrelaisverhaltens mit simulierten Netzfehlern. ew 102(2003)23,46-48, www.walter-schossig.de
4 RelaySimTest. Omicron.
5 Ziegler, G.: Digitaler Distanzschutz. Grundlagen und Anwendung. SIEMENS: 2. Auflage 2008, Publicis Corporate Publishing.
6 Schossig, W.; Schossig, T.: Netzschutztechnik. EW Medien und Kongresse GmbH, Frankfurt a.M. / VDE Verlag, Berlin, 6. Auflage 2017. www.walter-schossig.de