Etappen der Innovation - Balance mit Widerstand

von Walter Schossig Datum 18.09.2017

Leitungsschutz

Der entfernungsabhängige Spannungsabfall-Schutz

Der Staffelschutz in Form des Überstromzeitschutzes bzw. Überstromrichtungsschutzes erwies sich auf Grund der hohen Fehlerabschaltzeiten und des auf Stich- oder Ringfahrweise abgestimmten Schaltzustandes zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als nicht mehr ausreichend. Um die Netze frei zu gestalten entwickelte sich der Distanzschutz als wichtigstes Element der Schutztechnik. Bereits im Jahre 1904 schlug Krämer, Chr., F&G, ein Schutzrelais vor, dass die Grundzüge des Distanzrelais trägt. Der Patentanspruch lautete bei DRP 174 218 der Felten & Guilleaume-Lahmeyer-Werke AG (F&G): „Relais zur selbsttätigen Ausschaltung eines Wechselstromes, das bei Überschreitung der normalen Stromstärke einen Hilfsstromkreis schließt, dadurch gekennzeichnet, dass eine Haupt- und eine Nebenschlussspule auf eine drehbare Metallscheibe einander entgegenwirkende Drehmomente ausüben, zum Zwecke, nach dem Maß der Überschreitung der normalen Stromstärke zufolge des davon abhängigen Sinkens der Spannung den Zeitpunkt der Schließung des Hilfsstromkreises zu bemessen.“  (Abb.1)

 

 

Abb.1 Grundsätzliche Anordnung des Distanzschutzes nach Krämer, Chr., F&G, 1904

Besondere Verdienste hat sich die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) und die Dr. Paul Meyer AG erworben, indem sie als erste deutsche Firma fast gleichzeitig in den Jahren 1923/24 das Distanzrelais erfolgreich in die Praxis eingeführt hatten. Dem waren verschiedene Patente vorangegangen.

Am 23. April 1908 kommt es zur Erteilung eines Patentes, Erfinder Kuhlmann, K., an die AEG, nach dem erstmalig eine vom Strom angetriebene Ferraris-Scheibe vorgeschlagen wird, bei der ein besonderer Spannungsmagnet im bremsenden Sinne wirkt, wodurch sich eine distanzabhängige Kommandozeit ergibt. Zwei Monate später erhält Kuhlmann, K. , AEG, ein grundlegendes Patentes zum Distanzschutz als Kipprelais (Wagebalkenprinzip) abhängig von U < und I > mit Ferrarisscheibe und Drehanker, DRP 214 164. Da es sich beim Waagebalkenrelais um eine mechanische Vorrichtung handelt, ist der Phasenwinkel zwischen Strom und Spannung unbedeutend, sodass der beim elektromechanischen Relais typische Impedanzkreis entsteht.

Es folgt 1911 eine Erfindung von Wecken,W., DRP 248 466, die die Grundlage für den selektiven Spannungsabfallschutz bildet.

Die bisherigen Relais waren für Stichleitungen mit einseitiger Energiezufuhr gedacht. 1912 bringt Wecken,W. den Ringleitungsbetrieb zur Sprache und schlägt zum Schutz der Ringnetze Spannungsabfallrelais vor. Auch dieses Relais besaß kein Richtungsglied zur Unterscheidung der Energierichtung im Kurzschlussfall. Meyer, G.,J. gibt im darauf folgenden Jahr ein strom- und spannungsabhängiges Relais für den Ringbetrieb an. Auch dieses arbeitet noch ohne Richtungsglied, obwohl er in der Patentschrift DRP 269 759 schon von der Richtung des Energieflusses als regelnder Größe spricht.

Die Richtungsglieder wurden für den Ring- und Parallelleitungsbetrieb deswegen nicht in Erwägung gezogen, da nach dem damaligen Stand der Technik gewöhnlich nur ein Ölschalter je Durchgangsstation zum Einsatz gelangte. Damit war ein Richtungsglied überflüssig. In der heutigen Praxis werden natürlich in den Ringleitungsstationen in beiden Richtungen Leistungsschalter eingesetzt. Dadurch wird erreicht, dass bei Abschaltung des Leitungsfehlers die Station weiterhin versorgt wird.

Abb.2 Spannungsverteilung bei Kurzschluss

Abb.3 Schema des Spannungsabfallrelais von V&H

Abb.4 Spannungsabfallrelais von V&H

Beim V&H-Spannungsabfallrelais (Abb.3 und 4) übten auf eine Trommel vier Triebkerne, deren Spulen in Verbindung mit Widerständen an der Spannung liegen, ein Drehmoment aus, so dass bei voller Spannung ein Balken durch eine Seidenschnur hochgezogen wurde. Sinkt nun im Fehlerfall die Spannung so fällt durch das Abspulen der Balken mit der entsprechenden Geschwindigkeit und man erreichte somit eine von der Fehlerentfernung abhängige Kommandozeit. Durch die Vorschaltung einer Metallfadenlampe und durch Verstellen der Widerstände konnte die Charakteristik der Kennlinie nach Bedürfnissen in gerade oder krumme geändert werden (Abb.5).

Abb.5 Auslösekennlinie Spannungsabfallrelais V&H

Der Impedanzschutz

Am 29. Februar 1916 wird der Westinghouse El. & Mfg. Co., Erfinder Crichton,L.N., DRP 334 760, ein Relais geschützt, dessen Ablaufzeit sich im Verhältnis Impedanz Spannung / Strom = Impedanz ändert und bereits ein Richtungsglied hatte. Das entsprechende amerikanische Patent 1 292 584 wurde am 28. Januar 1919 gedruckt und war aber bereits am 13. Dezember 1912 angemeldet worden.

1918 entwickelte Meyer,G.J. die Grundlage für das spätere N-Relais, Netzschutzrelais (Abb.6). Die erste Distanzschutzanlage erhielt das 4-kV-Kabelnetz der Stadt Karlsruhe im März/April 1923.

Die ersten Biermannsrelais (ebenfalls Abb.6) wurden Mitte 1924 im 30-kV-Netz der Thüringer Elektrizitäts-Lieferungsgesellschaft (ThELG) mit Sitz in Gotha, in Betrieb genommen. Hier wurden auch die ersten Kurzschlussversuche mit diesen Relais unter Betriebsbedingungen durchgeführt (Abb.20).

Abb.6 Erste Impedanzrelais, Biermannsrelais, AEG und N-Relais, Dr. Paul Meyer AG, beide 1924

Abb.7 Kennlinie Biermannsrelais, AEG, 1924

Abb.8 Schaltung Biermannsrelais, AEG, 1923/1924

Der beim Biermanns-Relais (Abb.6) angebrachte rote Punkt ist die Phasenfarbe, d.h. in einem Abgang waren drei Distanzrelais erforderlich. Die sich aus Abb.7 ergebenden Auslösezeiten erscheinen für die heutige Zeit sehr hoch. Sie waren aber den Praxisbedingungen für die vorhandenen Ölschalter durchaus angepasst. Die Grundzeit lag wegen der Leistungsfähigkeit der Schalter (Abklingen des Stoßkurzschlussstromes) bei 0,5 bis 1 s und die beobachtete Zunahme der Ausschaltzeiten im Betrieb war bei der Staffelung zu berücksichtigen. Anderseits brauchte der stationäre Kurzschlussstrom in damals neuzeitlichen Anlagen, die mit weichen Maschinen und Stromreglern arbeiteten, nicht befürchtet zu werden. Die Kennlinie entsprach einem festen Impedanzbereich von sekundär gleich 110 V/5 A = 22 Ω. Im Bedarfsfalle konnte die Auslösezeit nur dadurch lediglich leicht verringert werden, indem die ohnehin aus zwei Teilen bestehende Wicklung des Stromeinganges statt parallel hintereinander geschaltet wurde (Abb.7).

1915 bringt Meyer,G.J. das Verfahren der Umschaltung der Spannung von der verketteten zur Spannung gegen Erde. Diese Umschaltung hat jedoch beim Distanzschutz erst im Jahre 1925 seine Bedeutung erhalten, als zur besseren selektiven Doppelerdschlusserfassung (double-line-to-ground fault), die von Biermanns, AEG, (Abb.13) angegebenen Spannungsumschaltung durch die Leiter- bzw. Nullstromanregeglieder angewendet wurde.

1920 wird von dem Kanadier Ackerman ,P. ein vereinigtes Strom- und Spannungsrelais nach dem Widerstandsprinzip (Abb.9) angegeben und seit 1921 von den Cansfield Electrical Works, Toronto, ausgeführt. Erstmalig wird durch Ackerman die stufenförmige Zeitkennlinie des Distanzschutzes – wie sie auch heute noch zur Anwendung kommt - realisiert.

 

 

Abb.9 Balance-Relais von Ackerman, 1920

Abb.10 Induktions- und Tauchankerprizip, Westinghouse-Relais

Abb.11 Westinghouse-Distanzrelais

Nach diesem Verfahren arbeitete dann auch der Siemens-Reaktanzschutz, der Oerlikon-Minimal-Impedanzschutz sowie die neueren Distanzrelais der Westinghouse Co. und der General Electric Co.

Das Westinghouse-Distanzrelais wurde in April 1923 bekannt. Die erste Schutzanlage mit Westinghouse-Distanzrelais ist vermutlich im Herbst des gleichen Jahres in Amerika in Betrieb gegangen. Das Westinghouse-Distanzrelais war jedoch bei weitem nicht so verbreitet wie die deutschen Distanzrelais. Der Grund war wohl, dass man in Amerika grundsätzlich Doppelleitungen vorsah und diese mit Differentialrelais oder Differenzrelais (Balance-Relais) schützte. Hinzu kam, dass Netzvermaschungen möglichst vermieden und strahlenförmig aufgebaute Netze bevorzugt wurden.

In Europa ist als erste Anlage mit Westinghouse-Distanzrelais die 100-kV-Doppelleitung vom Großkraftwerk im Hedwigschacht bei Seestadl nach Prag Anfang 1925 ausgerüstet worden. 1927 entschließen sich das Thüringenwerk und das Kraftwerk Thüringen A.-G. zur Einführung des Siemens-Westinghouse-Impedanzschutzes in ihrem 50-kV-Netz (Abb.12). In der Phase R (Leiter 1) ist das Gehäuse abgenommen. 

Abb.12 Siemens-Westinghouse-Impedanzschutz für eine 50-kV-Leitung

Abb.13 Biermanns,J.

Abb.14 Distanzrelais und Erdschlussrelais der AEG für 4 Leitungen auf 2 Relaistafeln

Für das AEG-Distanzrelais, Bauart 1923, lieferte Biermann, J. die ersten Vorschläge. In einer Reihe von Veröffentlichungen und Patenten klärte er die wesentlichen Zusammenhänge auf dem Gebiet des Distanzschutzes. Von ihm stammen auch die ersten Angaben über das Impedanz-Anregeglied, das Reaktanz-Ablaufglied und die Erfassung des Doppelerdschlusses. Die Änderung der Ablaufzeit im Verhältnis Spannung / Strom = Impedanz führte zu der Bezeichnung  „Impedanzschutz“ (oder auch „widerstandsabhängiges Relais“). Biermanns prägte wegen der entfernungsabhängigen Auslösezeit als Erster den Distanzbegriff und so kam es schließlich zu den heute verwandten Ausdrücken „Distanzschutz“ bzw. „Distance Protection“; „Distance Relay“ und „Protection de Distance“.

Die im Jahre 1928 auf den Markt gekommenen Distanzrelais von Brown, Boveri & Cie (BBC) und Siemens & Halske (S&H) waren entsprechend der europäischen Praxis noch mit stetigen Zeitkennlinienverlauf. Die Relais wurden für Hochspannungs-Freileitungsnetze als Reaktanzrelais gebaut Der Vorteil bestand darin, dass Lichtbogenfehler mit ihrem ohmschen Betrag keinen Einfluss hatten. Für Mittelspannungs-Freileitungsnetze sowie für Kabelnetze wurden sie als Impedanzrelais (bei BBC mit angepasster Phasenverschiebung) ausgebildet.

Abb.15 Distanzrelais, BBC, 1928

Bemerkenswert ist ein Patent der Bergmann-Elektrizitätswerke, DRP 403 934 und DRP 404 867 von 1923, Erfinder Schade, P. Das Distanzrelais besteht in der Hauptsache aus einem Relais, bei dem sich die eine Kontakthälfte in Abhängigkeit von den elektrischen Leitungsgrößen Schein-, Blind- oder Wirkwiderstand, einstellt, die andre von einem Zeitwerk mit gleich bleibender Geschwindigkeit auf die erste Kontakthälfte hinbewegt wird. Die Auslösezeit des Relais ist dabei um so geringer, kleiner der Leitungswiderstand zwischen Fehlerstelle und Relaiseinbauort wird, oder anderes gesagt, je kleiner die Fehlerentfernung ist.

Abb.16  Distanzrelais Bergmann-Elektrizitätswerke, 1923

Die Anregung

Im Mittelspannungsnetz (4 bis 60 kV) reichte in der Regel eine Überstromanregung aus, da die Kurzschlussströme auch damals schon größer als die Nennströme der zu schützenden Anlageteile waren. Im 110-kV-Netz  fielen die Kurzschlussströme wegen des verringerten Maschineneinsatzes nachts und an Sonn- und Feiertagen unter den Nennstrom des Schutzobjektes, sodass zum Anwurf eine zusätzliche Unterimpedanzanregung erforderlich wurde. In starr geerdeten Netzen war nur durch die Unterimpedanzanregung ein phasenselektives Anregen erreichbar. Fehlanregungen in den gesunden Leitern durch Ausgleichsströme (Bauchsches Paradoxon) wurden hiermit verhindert. Im 110-kV-Freileitungsnetz bevorzugte man Reaktanzrelais, um den Lichtbogeneinfluss auszuschließen. Insbesondere in Schwachlastzeiten waren vor dem Abreißen des Lichtbogens Werte bis zu 100 Ω zu verzeichnen. Die ersten Distanzrelais wie N-Relais, Dr. Paul Meyer AG, Biermanns-Relais, AEG und BBC-Relais waren einpolig mit je einem Anrege-, Zeit- und Richtungsglied. Somit waren in der Regel drei Relais im Leitungsabgang eingebaut. Im Kabelnetz ging man oft davon aus, dass Doppelerdschlüsse kaum auftreten und jeder Fehler durch die lange Kommandozeit im Gürtelkabel zum dreipoligen Fehler führt.

Die im Jahre 1928 auf den Markt gekommenen Distanzrelais der BBC und Siemens-Impedanzrelais waren ähnlich aufgebaut.

Nach dem Reaktanzprinzip wurden erstmalig die Distanzrelais von BBC und S&H im Jahre 1928 praktisch ausgeführt. Diese Relais wurden entgegen den Impedanzrelais hauptsächlich für Höchstspannungsnetze eingesetzt, da in diesen Netzen der Lichtbogenwiderstand sehr hoch werden kann.

Das AEG-Distanzrelais mit dem Impedanz-Anregeglied trug anfangs (1925 und 1926) den Namen „Doppel-Distanzrelais“.

Der Distanzschutz verdankt Biermanns die erfolgreiche Einführung in die Praxis. Die Schwierigkeiten bei der Einführung waren dadurch begründet, dass zu jener Zeit die von S&H bevorzugten Schutzsysteme (die geschichtliche Behandlung folgt in einer späteren Ausgabe) – Achterschutz, Polygonschutz, gegenläufige Staffelung – schon bestanden und günstige Ergebnisse aufwiesen. Zusätzlich wurde der Distanzschutz damals im Schrifttum und auf Tagungen einer sehr herben Kritik ausgesetzt. Anderseits war den Elektrizitätswerken der Gedanke noch zu neu, und das Misstrauen gegenüber dem neuen Schutz konnte nur durch zahlreiche Kurzschluss- und Doppelerdschlussversuche beseitigt werden. Die erste Schutzanlage mit AEG-Distanzrelais wurde Mitte 1924 bei der ThELG im Thüringer 30-kV-Freileitungsnetz in Betrieb genommen. 

Die ersten Verbesserungen

Bereits die ersten Jahre der Entwicklung des Distanzschutzes waren von einer Flut von Patenten begleitet. Von 1908 bis Anfang der 20er Jahre folgten Erfindungen von Kuhlmann, K.; Wecken, W.; Chrichton, L.N.; Meyer, G.J., Ackerman, P. und Biermanns, J. 1924 vereinigt Kesselring,Fr. das Netzschutzrelais und das Richtungsrelais in einen Kasten. Das vereinigte Relais erhielt daraufhin die Bezeichnung N-Relais. Cohn,, A. führte grundlegende Entwicklungsarbeiten am Bimetallstreifen und Sättigungswandler und weiteren Teilen aus. Kesselring. hat dagegen in den Jahren 1924 bis 1927 die Kinematik des N-Relais sowie das Spannungs- und Richtungsglied sowohl physikalisch als auch konstruktiv wesentlich vervollkommnet.

Der Norweger Wideröe, R. hat z.B. während seines Wirkens in der Schutztechnik in der Zeit von 1928 bis 1932 für die AEG 41 deutsche und 2 amerikanische Patente und für N. Jacobsens Elektriske Verksted a/s (NJEV), Oslo, zehn norwegische Patente angemeldet.

Abb.17 Schaltchema des Wideröe-Relais, NJEV

Abb.18 Wideröe-Relais, NJEV, 1933

Abb.19 Auslösekennlinie Wideröe-Relais, NJEV

Kurzschlussversuche als Vorraussetzung für den Netzeinsatz

Bereite 1920 machte Ackerman, P. auf Grund seiner Betriebserfahrung und Kurzschlussversuchen im 50-kV-Freileitungsnetz der Shawinig Water and Power Co. die Erfahrung, dass Zeitrelais mit Überstrom-Ansprechgliedern bei geringen Maschineneinsätzen nicht auslösen können, weil der Kurzschlussstrom dann unter dem Ansprechwert ja sogar unter dem Nennstrom der Anregeglieder liegt. Den Einfluss des Lichtbogenwiderstandes hatte er dabei noch nicht erkannt. Er sah das Zurückgehen des Kurzschlussstromes während der Kurzschlussdauer lediglich in dem Abklingen des Stoßkurzschlussstromes auf den Dauerkurzschlussstrom begründet.

Nach eingehenden Kurzschlussversuchen rüstete 1922 die Preuß. Kraftwerke Oberweser A.G., Cassel, ihr 60-kV-Netz komplett mit V&H-Spannungsabfallrelais aus. 

Abb.20 Kurzschlussversuch in Thüringen

Aber auch in weiteren besonderes interessierten Elektrizitätsversorgungsunternehmen wurden systematische Kurzschlussversuche durchgeführt, um Erkenntnisse über die Relais, aber auch der Netze selbst, während der verschiedenen Störungsvorgänge zu gewinnen. Hierbei ergab sich eine wichtige Erkenntnis, dass in Hochspannungsnetzen der Kurzschlussstrom bei Schwachlastbetrieb unter Umständen geringer sein konnte, als der zu anderen Zeiten auftretende maximale Betriebsstrom. Biermanns hatte dies schon frühzeitig erkannt und machte dazu 1922 Angaben über das Impedanz-Anregeglied, DRP 390 280.

Dr. M. Schleicher hat bereits 1924 auf den ungünstigen Einfluss des Lichtbogens auf die seinerzeit vorhandenen Impedanzrelais hingewiesen.

In den Jahren 1926/27 machte das Bayernwerk ausführliche Versuche im 110-kV-Netz, bei denen vor allem auch der Lichtbogeneinfluss erstmalig systematisch untersucht wurde, der sich besonders bei kleinen Kurzschlussströmen auswirkt. Vorschläge für die Reaktanz allein für die Distanzmessung zu nutzen entstanden, wurden jedoch später wieder verlassen.

Nach eingehenden Untersuchungen und einer Netzerprobung mit 30 Relais entschließt sich Samkjöringen (das heißt „Die Zusammenarbeit“) - eine Form der Verbundgesellschaft in Norwegen - im Jahre 1936 für ihre Hauptleitungen das Distanzrelais System Dr. Wideröe, NJEV (Abb.17), dessen Ausnützungsrechte inzwischen die Elin A.-G in Wien für den größten Teil Europas erworben hatte, in Ostnorwegen zu empfehlen.

Während der Frühjahrsmesse 1924 wird das Distanzrelais der AEG an Hand eines Netzmodelles vorgeführt

Die Vorteile des Distanzschutzes zeigten sich auch in einer von der Elektrowerke AG geführten Statistik. Im Jahre 1924 waren im 100-kV-Netz unter 43 Störfällen, welche hauptsächlich im gespeisten Mittelspannungsnetz ihren Ursprung hatten, 32 Fälle zu verzeichnen, bei denen die eingebauten Relais (es waren die damals üblichen Überstrom- und Richtungsrelais) falsch gearbeitet haben. Die Zahl der Schalterauslösungen war also dreimal so hoch als sie sein sollten. Der Ersatz dieser Relais durch Distanzschutz hatte zur Folge, dass im Jahre 1927 bei 27 untersuchten Störungsfällen nur 2 Relaisversager zu verzeichnen war.

Sechs-, Drei, Zwei- und Einrelaisschaltung

Mit der Einführung des Distanzschutzes wurde auch bald erkannt, dass beim Doppelerdschluss (Fehlerfußpunkten in unterschiedlichen Leitern auf verschiedenen Leitungen) unterschiedliche Messgrößen verwandt werden müssen. So gab bereits Anfang 1924 Biermanns eine Schaltung an, bei der die Spannungsspulen der Distanzrelais im Kurzschlussfalle an die Leiter-Leiter und im Erdfehlerfalle dagegen an die Leiter-Erde-Spannung gelegt werden. Wenige Monate später führte er die heute auch verwendete Umschaltung der Messkreise durch eine im Summenstromkreis liegende Nullstromanregung (die fälschlicherweise als Anregung bezeichnet wird und eigentlich nur zur Messgrößenumschaltung dient) ein. Auch O. Mayr schlug bereits 1924 eine ähnliche Schaltung vor.

Die gebräuchlichsten Schaltungen für den widerstandsabhängigen Schutz die zur Verfügung standen sollen kurz beschrieben werden. Dabei wurden folgende Vorraussetzungen gemacht

  • von einer Umschaltung im Strompfad des Relais wird abgesehen
  • bei relaissparenden Schaltungen wird gleichzeitig eine Ersparnis der Stromwandler angestrebt
  • als Anregung des Impedanzschutzes wird Überstrom vorausgesetzt.

 

 

Abb.21 Sechsrelaisschaltung

Bei der Sechsrelaisschaltung (Abb.21) werden sämtliche Leiter-Leiter- bzw. Leiter-Erde-Fehler mit einem getrennten Messglied erfasst.

Abb.22 Dreirelaisschaltung

Die Dreirelaisschaltung (Abb.22) nimmt beim Doppelerdschluss (Erdfehlerfußpunkte in verschiedenen Selektionsabschnitten), d.h. Auftreten eines Nullstromes oder einer –spannung, eine Umschaltung sämtlicher Messspannungen von der verketteten auf die Leiter-Erde-Spannung.

Abb.23 Zweirelaisschaltung

Bei der Zweirelaisschaltung (Abb.23) verwendet man nur zwei Messglieder mit zwei Stromwandlern. Die Messwertumschaltung kann nur durch die Nullspannung erfolgen.

Abb.24 Einrelaisschaltung; U/I Impedanz, U.I Richtung

Eine Vereinfachung stellte die Einrelaisschaltung (Abb.24), auch Einrelaisimpedanzschutz (Abb.25) genannt, dar. Hier ist nur ein Messglied erforderlich und die Umschaltung der Spannung erfolgt in Abhängigkeit der Nullspannung.

 

 

Abb.25 Einzelrelaisimpedanzschutz, S&H

Die Einrelaisschaltung, allerdings mit drei Stromwandlern und Messgrößenumschaltung bei Auftreten des Nullstromes, hat sich später in der Mittel- und Hochspannung als Standardlösung durchgesetzt. In Abhängigkeit von der Leiter- und Nullstromanregung werden einem Messglied (analog auch dem Richtungsglied) über Zwischenrelais die entsprechenden Strom- und Spannungsgrößen zugeführt. Um eine Umschaltung der Wandlerströme zu vermeiden, werden über Zwischenwandler und Shunt gewonnene stromproportionale Größen verwandt. Lediglich im Höchstspannungsnetz werden, insbesondere zur Verkürzung der Kommandozeit und Schaffung von Redundanz Sechsrelaisschaltungen verwandt.

Die Erfahrungen mit den ersten Distanzrelais zeigten, dass für die allgemeine Verwendung im Netzbetrieb eine leichtere Verstellbarkeit der Kennlinie erwünscht war, um die Relais an Ort und Stelle den Leitungslängen, Wandlerübersetzungsverhältnissen usw. anpassen zu können. Beim Biermannsrelais war hierzu am Einbauort nur eine grobe Änderung der Kennliniensteilheit im Verhältnis 1:2 durch Reihen- oder Parallelschaltung zweier Wicklungsgruppen möglich. Beim N-Relais konnte die einmal eingestellte Charakteristik praktisch nur durch das Auswechseln der Kurvenscheibe, des Bimetallstreifens oder des Sättigungswandlers geändert werden, wobei die neue Kennlinie jedes Mal erst wieder mit einer Reihe von Messpunkten geeicht werden musste.

In den Jahren 1925 bis 1927 führt das Bayernwerk zusammen mit den Herstellern S&H, AEG und BBC Kurzschlussversuche größeren Stiels im 110-kV-Netz durch.

Innerhalb von zwei Jahren hat Walter, M. an etwa 70 Kurzschlüssen das Verhalten bzw. die Wirkung auf den Distanzschutz getestet.

Die Versuche haben aber auch gezeigt, dass die Kurzschlussströme je nach Maschineneinsatz und Leitungsvermaschung großen Schwankungen unterlagen. So konnte es vorkommen, dass die Lastströme tagsüber größer als die Kurzschlussstrome in der Schwachlastzeit nachts waren. Dies führte dazu, dass bereits 1927 eine Ansprechcharakteristik zum Einsatz kam, die bei  Nennspannung das Distanzrelais erst beim doppelten Nennstrom zur Auslösung kam, während bei stark gesunkener Spannung (Kurzschlussfall) schon bei 30 % der Nennstromstärke auslöste.

Forderung nach Eil- und Schnellimpedanzschutz

Ende der zwanziger Jahre wurde der Ruf großer Energieversorgungsunternehmen nach kürzeren Abschaltzeiten von möglichst unter 2 s immer lauter. Insbesondere sollte dem Außertrittfallen von Generatoren, Einankerumformern und Motoren begegnet werden. In der Zwischenzeit waren die Ölschalter auf wesentlich höhere Abschaltleistungen gebracht worden, sodass nunmehr entsprechen niedrigere Kommandozeiten zugelassen werden konnten.

Es war zunächst üblich, die Auslösezeit der Widerstandsrelais proportional mit der Entfernung der Fehlerstelle vom Relais wachsen zu lassen. Bei der Einstellung musste sehr sorgfältig die Länge der zu schützenden Strecke sowie die Steilheit der Relaischarakteristik beachtet werden, um Überschneidungen zu vermeiden. Die stetige Kennlinie hatte allerdings den Vorteil, dass mit der Einführung der Laufzeitanzeige Rückschlüsse auf den Fehlerort gezogen werden konnten. Man könnte es auch als Geburtsstunde des Fehlerorters bezeichnen.

Abb.26 Staffelplan mit Biermannsrelais

Abb.26 zeigt einen Staffelplan mit dem AEG-Distanzrelais. Für die inzwischen weit ausgedehnten 60- und 110-kV-Netze wurde nicht nur die Forderung auf verringerte Grundzeit erhoben, sondern auch diese verringerte Auslösezeit am Leitungsanfang möglichst weit zum Ende der Leitung beizubehalten. Dies führte zum Verlassen des bis dahin üblichen stetigen Anstieges der Auslösezeit und zur rein stufenförmigen, gemischten oder gebrochenen Kennlinien.

Die weiteren Schritte der Entwicklung des Distanzschutzes bis zum multifunktionalen Abzweigschutz werden in einer späteren Ausgabe behandelt.

Im Internationalen Elektrotechnischen Wörterbuch der IEC – International Electrotechnical Vocabulary (IEV), IEC 60050. ist definiert:

448-14-01  Distanzschutz  - distance protection (EN), distance relay (USA) 

„Selektivschutz mit relativer Selektivität, dessen Funktionsweise und Selektivität von der lokalen Messung elektrischer Größen abhängen, aus denen die Entfernung zum Fehlerort durch Vergleich mit den Einstellwerten der Distanzstufen ermittelt wird“

Literatur

1 Walter,M.: Die Entwicklung des Distanzschutzes. VDI-Z.75(1931)52,1555-1558
2 Schweder,B.: Forschen und Schaffen. Beiträge der AEG zur Entwicklung der Elektrotechnik bis zum Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg. Band 1, 472 S.; Band 2, 472 S. u. Band 3, 520 S., Hrsg. AEG, Berlin 1965
3 Sorge,J., Neugebauer,H.: Einsystemiger Impedanzschutz. Siemens-Zeitschrift 11(1931)10,437-444 bzw. dito: Der Einrelais-Impedanzschutz. Erweiterter Sonderdruck aus Siemens-Zeitschrift 15(1931)10,3-10
4 -; Distansereler Patent Wideröe for Kortslutningsbeskyttelse av elektriske anlegg. N. Jacobsens Elektriske Verksted a/s, Oslo
5 Titze,H.: Die Entwicklung des Selektivschutzes für elektrische Anlagen. Erweiterte Fassung einer im Konrad-Matschoss-Preisausschreiben 1962 ausgezeichnete Arbeit. 44 S.
6 Rüdenberg,R.: Relais und Schutzschaltungen in elektrischen Kraftwerken und Netzen. Verlag von Julius Springer, Berlin 1929
7 -; Das Thüringenwerk. Entwicklung und Aufbau von der Gründung bis zum Jahre 1929. 42 S., Druck von G. Uschmann in Weimar
8 Schossig, W.: Distance Protection: The Early Developments Distance Protection (Distanzschutz.  Der Beginn und die ersten Schritte). PAC.Winter.2008, p.70-76, http://www.pacw.org/fileadmin/doc/WinterIssue08/history_winter08.pdf

 

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