WIR VERÄNDERN DAS NETZ – DAS NETZ VERÄNDERT UNS

Das alle zwei Jahre stattfindende Hauptereignis der Branche, die FNN-Fachtagung Schutz- und Leittechnik 2018, fand vom 20. – 21. Februar 2018 in Berlin statt. Die hohe Besucherzahl und die Qualität der Vorträge sorgten für ein besonders informatives und gemeinschaftliches Ereignis.

von Peter Schitz Datum 20.03.2018

Allgemein

Der Tagungsleiter H. Hoppe-Oehl von Westnetz GmbH definierte in seiner Rede den Tagungsschwerpunkt: dezentrale Erzeuger und deren Auswirkungen. Die derzeit von den dezentralen Erzeugern produzierten 10 GW haben bereits deutliche Auswirkungen auf die Netze, die das „backbone“ der Energiewende sind. Die Schutz- und Leittechnik spielt dabei eine bedeutende Rolle. Seine wesentliche Feststellung, dass es die „eine“ Lösung nicht gibt, war über den gesamten Verlauf der Tagung wahrnehmbar. Um einen Überblick der Inhalte zu vermitteln, fassen wir für Sie einige der Vorträge in Themenschwerpunkten zusammen:

KURZSCHLUSSSTROM

NETZWEITER KURZSCHLUSSSTROM
Laut einer Studie der deutschen Netzagentur DENA [1] ist keine drastische Reduktion der Kurzschlussström ein Höchst- und Hochspannungsnetzen zu erwarten – Abb. 1. Wie in Abb. 2 dargestellt, wird die Energie in Zukunft durch flächenmäßig vergrößerte Spannungstrichter sozusagen aus den Lasten geholt und dadurch werden die Fehlerströme hoch genug bleiben – H. Kühn, Tennet TSO GmbH. Sollte es dennoch punktuell zu Reduktionen in der Hoch- oder Hochspannung kommen, sind die Folgen auf der Mittelspannungsebene geringer. Beispielhaft wirkt sich bei einem 40-MVA-Standardtransformator eine 10 %-Reduktion im Hochspannungsbereich nur mit ca. 3 % auf der Mittelspannungsebene aus – M. Engel, Netze BW GmbH.

Abb. 1 Entwicklung der Netz-Kurzschlussleitung lt. DENA-Studie Systemdienstleistung 2030 [1]

Abb. 2 Spannungstrichter bei einer Störung mit und ohne AKW bzw. Restkraftwerkpark (RKWP) [2]

BERECHNUNGEN MIT PV-ANLAGEN
In der Normierung der Kurzschlussstromberechnung IEC 60909-0, besser bekannt als VDE 0102, wurde die Einbeziehung der PV-Anlagen definiert. Überlagerungsverfahren mit vorangehender Lastflussberechnung liefern exaktere Ergebnisse. In VDE 0102 wird zur Vereinfachung die Methode der Ersatzspannungsquelle an der KS-Stelle eingesetzt. So sind auch die PV-Anlagen als Kurzschlussspannungsquellen an der Fehlerstelle definiert. Diese sind nur bei einem Beitrag zum Gesamt-Kurzschlussstrom von > 5 % zu berücksichtigen und werden nur bei der Berechnung der maximalen Ströme miteinbezogen. Eine weitere Norm-Ergänzung ist die Einführung einer Knoten-Admittanz- und Impedanz-Matrix – B. Oswald, Leibniz Universität Hannover.

GENERATOR-KURZSCHLUSSSTROM
In einem Beitrag zu einer Generator-Fehlauslösung wurden Kurzschluss-Simulationen für die Analyse berechnet. Die Kurzschlussströme von Generatoren klingen in Abhängigkeit von der Belastung und Erregung verschieden schnell ab: von nur 150 ms bei kleinen BHKW-Anlagen bis zu 350 ms bei größeren Einheiten – I. Hübl, KNG – Kärnten Netz GmbH.

SCHUTZTECHNIK

KONZEPTIONELLES
Bewährte Konzepte breiten sich über die jeweils niedrigeren Spannungsbereiche aus. Der bisher hauptsächlich in den Höchstspannungsverteilungen eingesetzte Sammelschienen- Differentialschutz ist nun auch in der Hochspannung vorzufinden. Distanzschutz mit Signalvergleich und Leitungsdifferentialschutz, der vormals überwiegend in Höchst- und Hochspannung anzutreffen war, wird nun auch in der Mittelspannung installiert – T. Keil, TransnetBW GmbH. 

Schutzkonzepte für Verteilnetze mit dezentraler Erzeugung müssen angepasst werden. Generatoren müssen vom Netz, bevor es zu unselektiven Auslösungen mit dem Netzschutz kommt. Abhilfen können Schlupfschutz bei Generatoren, Pendelsperren im Mittelspannungsnetz, Einsatz von micro-PMU in Kraftwerken sein – I. Hübl, KNG – Kärnten Netz GmbH.

DISTANZSCHUTZ
Beim Distanzschutz ging es in einigen Beiträgen bei Anwendungen in den Übertragungsnetzen um die Anpassung der Grenzbereiche zwischen maximaler Übertragungsleitung und Schutzzone. In vielen Fällen ist hier der Umstieg von Strom- auf Impedanzanregung die richtige Wahl. Die Ergänzung der Zonendefinition im Schutzgerät um einen Blindleistungskreis würde bei gleichbleibender Anregesicherheit und Lichtbogenreserve mehr Wirkleistungsübertragung ermöglichen – T. Keil, TransnetBW GmbH, H. Kühn, Tennet TSO GmbH. Eine neue Reaktanzmethode mit Kompensation des Widerstandes an der Fehlerstelle bei 2-seitiger Einspeisung durch Kompensationsstrom und -winkel verspricht in der Theorie Vorteile bei größerer Lastüberlagerung, großem Übertragungswinkel und längeren Leitungen. Mit einem Testmodus wären weitere Beobachtungen in der Praxis möglich – B. Sand, Amprion GmbH.

ORTUNGSVERFAHREN
Die Zahl der Erdschlussversuche ist generell im Steigen. Einen besonderen Fall stellt ein Versuch auf der 110-kV-Ebene dar, bei dem die Funktion von Erdschlussdistanzschutz-Einrichtungen überprüft wurde – G. Achleitner, APG.

Eines von mehreren in einem Vortrag über die letzte CIRED-Konferenz erwähnte Paper beschreibt ein ungewöhnliches Ortungssystem von Lichtbögen auf Freileitungen mittels Radioempfänger aus Großbritannien – I. Hübl, KNG – Kärnten Netz GmbH.

Durch die Verfügbarkeit von Messtechnik mit 2-MHz-Sampling-Rate und einer Zeitsynchronisation mit < 1 μs ist eine Erdschlussfehlerortung mit Wandlerwellen realisierbar. Dabei ist der Einsatz von kapazitiven Sensoren bis zu 110 kV möglich – G. Druml, Sprecher Automation GmbH.

ZWISCHENEINSPEISUNG
Das Stichwort Zwischeneinspeisung ist ein weiteres Dauerthema der Konferenz. Die Variationen reichen von weit eingestellten Übergreifzonen mit Signalvergleich bis hin zu Kombinationen von unter- und übergreifenden Schutzsignal-Übertragungsverfahren – T. Keil, TransnetBW GmbH.

Ein weiteres Beispiel für Zwischeneinspeise-Effekte zeigt die starke Auswirkung von mehreren dezentralen Einspeisungen parallel zu einem Haupttransformator an einer Mittelspannungsverteilung. Hier sind u. U. die Anregebedingungen für den Reserveschutz zu überprüfen – J. P. Findeisen, Westnetz GmbH. Ein Beispiel für die Fehlerstrom-Situation bei Zwischeneinspeisung zeigt Abb. 3.

Abb. 3 Fehlerstromverläufe bei Zwischeneinspeisung

WANDLERSÄTTIGUNG
Mit einer Differentialschutz-Simulation einer Kabelstrecke inkl. Wandlersättigung in Mathlab kann die Wirkungsweise eines neuen Verfahrens für Stromwandlersättigung – siehe Beispiel Abb. 4 – überprüft und optimiert werden. Dieser auf der Auswertung von Harmonischen im Sekundärstrom basierende Algorithmus verspricht eine Korrektur für Betrag und Winkel auch bei sehr starker Stromwandlersättigung – W. Fromm, HTWG Konstanz:

Abb. 4 Beispiel einer Wandlersättigung

STÖRUNGSANALYSEN
Von einer Gruppe von Vortragenden wurde eine Vielzahl von Störungsanalysen präsentiert, die eindrucksvoll u. a. Netzpendelungen durch kurzzeitige Kurzschlussereignisse, Überspannungen in Netzen durch 1-polige AWE im vorgelagerten Netz oder regionale Spannungseinsenkungen bei einem Kurzschlussereignis in Abhängigkeit von der Windpark-Erzeugungsleistung zeigen.

Am Beispiel eines Off-Shore-Netzes wurde der Einfluss der Qualität von Strom und Spannung auf den Betrieb von Schutzeinrichtungen gezeigt. Hier kommt es durch Reihenresonanzeffekten zu einem dominanten 100-Hz-Anteil in Strom und Spannung, der zu Fehlanregungen der Distanzschutzgeräte, auch bei abgeschalteter Leistungselektronik, führt – J. Meyer, TU Dresden.

IT-SECURITY
In einem eigenen Workshop zu Anwendungen und Informationssicherheit in Kommunikationsnetzen wurden von einer Gruppe von Vortragenden Vorschriften, Information Security Management Systems – ISMS – und Kommunikationstopologien präsentiert.

Ein weiterer Beitrag beleuchtete das Thema beginnend bei den notwendigen Definitionen und firmenweiten Regelungen bis hin zur Topologie von Schutz-/Leittechnik-Netzwerken – O. Skrbinjek, Energie Steiermark GmbH. 

VERIFIZIERUNG VON SCHUTZEINSTELLUNGEN

KONFORMITÄTSÜBERWACHUNG
Für eine zuverlässige Übernahme von Systemdienstleistungen wie Frequenz- und Spannungshaltung durch dezentrale Erzeugungsanlagen – DEA – ist im ersten Schritt die frühzeitige Definition und Quantifizierung erforderlicher Systemdienstleistungen von/an die Erzeugungsanlagen durch Netzanschlussregeln notwendig. In einem zweiten Schritt muss sichergestellt werden, dass Anforderungen der Netzanschlussregeln durch DEA auch wirklich eingehalten werden. Dazu sind Nachweisverfahren wie Inspektionen etc. einzuführen. Die bisherige Praxis der Nachweisverfahren konzentrierte sich v. a. auf Planung und Inbetriebnahme, wo hingegen wiederkehrende Prüfungen der  Erzeugeranlagen und der Zyklus der Wiederholungsprüfungen nicht einheitlich geregelt waren. In der nationalen Umsetzung des EC Network Codes in Deutschland, VDEAR- N 4100 und ff., werden u. a. diese Punkte entsprechend geregelt – S. Brandt, FGH GmbH.

SCHUTZEINSTELLTOOLS
Der völlige Datenaustausch zwischen gängigen Einzelsystemen wie Netzberechnung, Netzleitsystem-Berechnung, Betriebsmittel-Datenbank, Schutzeinstellungen etc. ist nicht machbar. Eine praktische Ausführung zeigt, wie die Betriebsmitteldatenbank als Schlüssel-Datenquelle herangezogen wurde, mit der über eine zentrale Datenbank Einstell-, Schutzprüf- und Wandlerprüfdaten an Netz-, Schutz- und Leittechnikberechnungstools weitergegeben werden. Von einem Schutzberechnungstool erfolgt eine Daten-Rückkopplung an die Datenbank – A. Ludwig, 50Hertz, H. Grünert, GSC.

AUTOMATISIERTE BEWERTUNG DES SCHUTZVERHALTENS
Im Prinzip werden während Störfällen auftretende Anomalien, die zuvor durch Regeln zu definieren sind, aus den von den Stationen übermittelten Daten aufgezeigt. Dadurch können Fehlfunktionen und falsche Einstellungen erkannt werden – L. Philippot, Netceler.

Zum Schluss eine Anmerkung der Redaktion: Einige der Vorträge sind in voller Länge bereits in der Februar-Ausgabe der „netzpraxis“ erschienen. Weitere werden in der April-Ausgabe zu lesen sein: www.ew-online.de.

Quellen

1 DENA, Sicherheit und Zuverlässigkeit einer Stromversorgung mit höherem Anteil an erneuerbaren Energien, DENA, Berlin, 2014
2 R. S. Altschaeffl, Einfluss von Wechselrichtern im Verteilnetz auf Kurzschlüsse im Übertragungsnetz, VDE-FNN, Berlin, 2016.
3 Digsilent GmbH, Broschüre Stationware 2016, Digsilent, Gomaringen, 2016.
4 T. Aschwanden, Leistungsschalter in Kraftwerksanlagen, Electro Suisse ETG, 2016. 

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